Gorilla auf dem Sofa

70. Festival de Cannes Die Namen waren groß, die Filme leider enttäuschend. Bis auf eine kluge Satire über den Kunstbetrieb
Ausgabe 22/2017

In Cannes gibt es vieles: schöne Menschen in schönen Kleidern, Luft, die nach Lavendel duftet, Sonne und türkisfarbenes Meer. Was es dieses Jahr weniger gab, waren gute Filme – zumindest im Wettbewerb der Filmfestspiele. Dabei waren die Erwartungen groß, denn groß waren die Namen: Sofia Coppola und Michael Haneke, François Ozon und Noah Baumbach kamen mit neuen Filmen nach Südfrankreich.

Umso größer dann die Enttäuschung. Die Wettbewerbsfilme waren in der Mehrzahl langweilig: konventionell, erwartbar, gefällig. Harmlos. Kalkulierte Nummern, gut geeignet für die Markenzeichenpflege im Arthouse-Segment, aber eines Filmfestivals, das weltweit als führend gilt bei der Suche nach neuen Formen, nicht würdig.

Da war zum Beispiel das Biopic Rodin von Jacques Doillon – die Liebesgeschichte zwischen dem Bildhauer und seiner Schülerin Camille Claudel. 119 Minuten lang Gefühl. Mit Schauwerten aufgehübscht – nackte, sich umarmende Frauenkörper, aus Fleisch wie aus Stein. Das ist schön, aber nach zehn Minuten hat man sich sattgesehen an so viel Schönheit. Wie es ausgeht, weiß man: tragisch. Zwei Stunden sind dafür eine lange Zeit.

Ähnlich unoriginell geriet Sofia Coppolas The Beguiled, eine Neuauflage von Don Siegels gleichnamigem Film aus dem Jahr 1971. Die Geschichte spielt in einem Mädchenpensionat in den Südstaaten. Sechs junge Frauen und ihre Direktorin (Nicole Kidman) warten auf das Ende des Bürgerkriegs. In der Zwischenzeit pauken sie Französisch, üben Klavier und backen Apfelkuchen. Bis ein verwundeter Yankee-Soldat hereinplatzt. Alle buhlen um seine Aufmerksamkeit, die sexuelle Spannung steigt, und natürlich geht er am Ende mit einer ins Bett.

Coppolas Lost in Translation (2003) war stark, weil die Regisseurin nah an ihren Figuren war. The Virgin Suicides (1999) funktionierte, weil Klaustrophobie und Ausweglosigkeit im Leben der Schwestern überzeugend transportiert wurden. Beides kommt in The Beguiled zu kurz, wenn Coppola die Don-Siegel-Geschichte aus der Perspektive der Frauen erzählen will – die Protagonistinnen bleiben schemenhaft. Warum sie dafür den Preis für die beste Regie bekam, ist das Geheimnis der Jury-Entscheidung. Immerhin wird damit Aufmerksamkeit auf eine der Regisseurinnen im Wettbewerb gelenkt, von denen es dieses Jahr drei gab. Mehr als in den Vorjahren.

Für wenig Überraschung sorgte Michael Haneke mit Happy End, dem Porträt einer französischen Industriellen-Familie. Seine Technik ist die altbekannte – eine distanzierte, mitunter kapriziöse Kamera, die dem Zuschauer oft das vorenthält, was er am dringendsten sehen will. Doch auch weit weg ist man noch nah genug dran am menschlichen Abgrund, angewidert will man sich wegdrehen und schaut doch weiter hin, wie sich die Schönen und Reichen zerfleischen oder an ihrer inneren Leere zugrunde gehen.

Irgendwie fad

Interessant ist, wie die aktuellen politischen Fragen das Geschehen in Happy End berühren: Auf einer Familienfeier tauchen Flüchtlinge auf, die in Calais gestrandet sind. Leider baut Haneke diesen Aspekt nicht aus. Die Szene, und damit der Film, endet mit dem Selbstmordversuch des Familienoberhaupts, gefilmt von der Smartphone-Kamera der moralisch entgleisten Nichte. Böse, brutal, aber irgendwie fad. Die globalen Migrationsbewegungen bildeten dieses Jahr eines der dominanten Themen. Für positive Reaktionen sorgte Vanessa Redgraves Dokumentarfilm Sea Sorrow, der Fluchtgeschichten gegen das Versagen der europäischen Politik schneidet. Leider lief er wie die meisten sehenswerten Beiträge außerhalb des Wettbewerbs.

Ein Wettbewerbsfilm, der positiv hervorstach, war Fatih Akins Neonazi-Thriller Aus dem Nichts. Darin spielt Diane Kruger ihre erste deutschsprachige Hauptrolle – und wurde von der Cannes-Jury als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Ihre Katja Sekerci rächt die rassistisch motivierten Morde an ihrem Mann und Sohn, die als Anspielung auf den NSU-Terror gesehen wurden, nachdem die Justiz versagt hat. Der Film wurde gemischt aufgenommen. „Er hat keine Botschaft, die über das Thema, so schrecklich es auch sein mag, hinausgeht“, sagte ein italienischer Kritiker-Kollege. Da hat er nicht Unrecht, nur funktioniert der Film auch so. Weil er – vor allem durch die brillante schauspielerische Leistung Krugers – beim Zuschauer starke Gefühle hervorruft, ohne pathetisch zu sein. Er klagt an, rüttelt wach, ist ein wichtiges Zeitzeugnis.

So schwach das diesjährige Festival gewesen sein mag – politisch war es durchaus. Bemerkenswert waren vor allem regimekritische Filme aus Russland, Iran und dem Maghreb. Der gelungenste – La Belle et la Meute von Kaouther Ben Hania – lief leider ebenfalls in einer Nebenreihe. Er erzählt die Odyssee einer Tunesierin, die von der Polizei vergewaltigt wird und vergeblich nach Hilfe sucht.

In der Mitte des Festivals gab es schließlich doch noch den einen Wettbewerbsfilm, der gesellschaftliche Relevanz, künstlerischen Anspruch und Unterhaltung elegant zu verbinden wusste: Ruben Östlunds Satire The Square, der zu Recht die Goldene Palme gewann. Im Zentrum des Films steht die Frage, wie weit Kunst gehen darf. Klingt anstrengend, ist es bei Östlund aber nicht, denn er sucht in der Welt der Kunst nach Antworten mit Witz und Charme.

In einer Szene sitzt ein Gorilla auf dem Sofa. Ob das Realität, Einbildung oder Kunst ist, bleibt dem Zuschauer überlassen. Überzeugend ist The Square auch, weil er auf eindeutige Antworten verzichtet. Das muss man aushalten können. Das Publikum in Cannes konnte es. Vielleicht aus Dankbarkeit für einen Wettbewerbsfilm, der es aus dem Tiefschlaf riss.

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