Grauer Star

Porträt Noumam Sakandé ist Heiler in Burkina Faso, die Familie macht den Job seit Generationen. Sein Augenproblem lässt er lieber beim Arzt operieren
Ausgabe 37/2017

Eines Tages sah Noumam Sakandé die Welt mit Flecken. Egal wohin er blickte, jedes Bild war gefleckt. Als hätte jemand Milchkaffee auf der Linse seines rechten Auges verschüttet. Die Flecken kamen ganz plötzlich, nachdem Sakandé, ein 81-jähriger Greis mit weißem Ziegenbart und Gehstock, einen Patienten behandelt hatte. Erfolgreich, so wie jede seiner Behandlungen. Der junge Mann hatte sich bei einem Unfall am Bein verletzt. Noumam heilte das kaputte Bein. Mit Baumwollbinden, Karitébutter, Ruhe. Und den geheimen Worten. Den Worten, die Gott einem von Noumams Vorfahren einflüsterte und denen eine magische Wirkung nachgesagt wird, aber nur, wenn sie von Männern geflüstert werden. Frauen wollen die Sakandés nicht in ihr Geheimnis einweihen. Ihnen fehle die Courage, sagt Noumam. „Eher würden wir unsere Gabe an einen fünfjährigen Jungen weitergeben.“

Frauen bringen auf diesem Flecken Erde, dem westafrikanischen Burkina Faso, im Schnitt fünf Kinder zur Welt. Das spielt für Noumam keine Rolle. „Wir haben Angst, unsere Gabe zu verlieren, wenn wir uns nicht an die Regeln halten.“ Die Sakandés sind eine in ganz Burkina Faso bekannte Heilerfamilie. Spezialisiert sind sie auf Brüche, Zerrungen, Lähmungen, Stauchungen, Prellungen. Kranke legen auf Maultierkarren und in Bussen Hunderte von Kilometern zurück, um sich von Noumams Familie behandeln zu lassen. Die meisten bleiben zwei Monate. Die Sakandés nehmen für ihre Dienste kein Geld, sagen sie zumindest. Weil sie Angst haben, sonst ihre besondere Fähigkeit zu verlieren.

Ihren Lebensunterhalt verdienen sie mit ein bisschen Landwirtschaft, so wie große Teile der Bevölkerung. Die meisten Burkinabe kommen mit sehr wenig aus: Fast die Hälfte lebt von rund einem Dollar pro Tag. Burkina Faso gilt als eines der ärmsten Länder der Welt. Einen Zugang zum Meer hat es nicht. Es ist bullenheiß – an vielen Tagen knapp fünfzig Grad –, die Erde verbrannt, überall liegt Müll rum, Industrie gibt es kaum, Arbeit noch weniger. Dafür viele Konfliktherde in den Nachbarländern, zum Beispiel in Mali und der Elfenbeinküste.

In Burkina Faso ist es dagegen ruhig. Muslime und Christen leben hier friedlich zusammen, sie heiraten einander, ihre Kinder gehen auf gemeinsame Schulen. Doch nicht jeder geht zur Schule oder wenn, dann nur kurz. Gut zwei Drittel der Bevölkerung sind Analphabeten. Aberglaube ist weit verbreitet. So suchen viele, wenn sie erkranken, eher einen traditionellen Heiler als einen Arzt auf. Ärzte sehen das als großes Problem an. Die Heiler betrieben Unfug, sagen sie. Statt Krankheiten zu heilen, verschlimmerten sie sie zusätzlich. Gerade wenn es um das Augenlicht geht, kann das fatale Folgen haben.

Viele Burkinabe erkranken am Grauen Star, einer Sehstörung, die durch eine Trübung der Augenlinse zustande kommt. Verursacht werden kann sie durch starken Lichteinfall oder eine mangelhafte Ernährung. Beides könnte verhindert werden: indem man eine Sonnenbrille trägt und mehr Proteine isst. Nur besitzt nicht jeder Burkinabe eine Sonnenbrille, und nur wenige Burkinabe denken über Proteine nach – in einem Land, in dem noch immer Kinder an Unterernährung sterben.

Bei manchen ist der Graue Star allerdings eine normale Alterserscheinung, wie sie auch in Industrieländern häufig vorkommt. Dort lässt sie sich leicht mit einem kleinen Eingriff beheben. In Burkina Faso gibt es nur 26 Augenärzte – für eine Bevölkerung von knapp zwanzig Millionen. Es gibt keine Facharztausbildung in Augenheilkunde. Dafür müssen Ärzte in ein anderes Land gehen, zum Beispiel Mali.

Acht von zehn Burkinabe wenden sich bei Sehstörungen zunächst an einen traditionellen Heiler, schätzt ein Augenarzt. Der drücke mit einem kleinen Hölzchen die Protein-Ablagerungen, die für die Sehstörung verantwortlich sind, so weit nach hinten, bis die Betroffenen – zumindest vorübergehend – wieder normal sehen könnten. Es ist eine Behandlungsmethode, die bleibende Schäden bis hin zur Erblindung verursachen kann.

Eine Operation dauert nur 15 Minuten

Light for the World ist ein europäischer Fachverband von NGOs zugunsten augenkranker, blinder und anders behinderter Menschen in Entwicklungsländern.

Die Organisation betreut 185 Hilfsprojekte in Afrika, Asien, Ozeanien, Lateinamerika und auch in Europa. Seit 2008 setzt sich die Organisation gemeinsam mit lokalen Partnern auch für die Chancen und Rechte behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen in den armen Regionen der Welt ein, ohne Berücksichtigung von Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht oder Religion. Arbeitsschwerpunkte sind die Prävention und Heilung von Blindheit, die Rehabilitation von blinden und anders behinderten Menschen, die Prävention von Behinderung und die Stärkung der Rechte von behinderten Menschen. Schwerpunktländer sind Äthiopien, Mosambik, Burkina Faso, Südsudan, Pakistan, Bolivien und Indien.

Der Verein umfasst Mitgliedsorganisationen aus Tschechien, Belgien, Österreich, der Schweiz, Großbritannien und Deutschland. Die Organisation ermöglicht die Behandlung des Grauen Stars oder der weitverbreiteten bakteriellen Infektion Trachom. Mit Spenden werden Krankenhäuser errichtet oder die Ausbildung von Augenärzten und Optikern finanziert. Mit einem Stipendium können junge Ärzte ihre augenmedizinische Facharztausbildung am renommierten IOTA (Institut d’ophtalmologie tropicale d’Afrique) in Mali absolvieren.
Drei dieser Studierenden haben 2016 die Ausbildung abgeschlossen und arbeiten nun in ihrer Heimat. Ziel ist es, die Facharztausbildung ins Land zu holen. Katharina Schmitz

Noumam Sakandé heilt eigentlich andere, doch heute ist er der Patient. Denn seit er den jungen Mann mit der Beinverletzung behandelt hat, sieht er nicht mehr richtig. Ob es einen Zusammenhang gibt, weiß er nicht. An Zufälle glaubt er eigentlich nicht. Noumam glaubt an Gott. Sein Gott heißt Allah. Und Gott ist groß. Noumam hält es für möglich, dass die Sehstörung eine Bestrafung Gottes ist. Sechs Jahre sind vergangen, seit er den jungen Mann behandelt hat. Er sitzt auf einer Holzbank, während er von dem mysteriösen Patienten erzählt. Und wartet darauf, dass man ihn in den OP-Saal ruft. Über dem rechten Auge trägt Noumam ein Pflaster. Damit der Arzt weiß, welches Auge er operieren soll.

Die Klinik, in der Noumam operiert wird, ist die Augenklinik von Zorgho, einer Kleinstadt im Zentrum Burkina Fasos, mit dem Auto rund zwei Stunden von der Hauptstadt Ouagadougou entfernt. Finanziert wird sie von der NGO Light for the World. Ein österreichischer Investor ließ vor kurzem in Solarzellen investieren, für 60.000 Euro. Damit die Klinik zuverlässig mit Strom versorgt ist. Vor den Solarzellen hatten sie jeden Tag mindestens einen Stromausfall, oft während gerade operiert wurde. Dann mussten sie im Schein von Taschenlampen weitermachen – keine leichte Sache am Auge, wo es auf Millimeter ankommt.

Rein ins gleißende Licht

Die Sonne steht im Zenit, als Noumam mit nackten Füßen und unsicheren Schritten aus dem OP-Saal tappt. Raus aus dem kühlen Dunkel, rein ins gleißende Licht. Noumam stützt sich auf einen Gehstock und runzelt die Stirn, er wirkt noch etwas benommen. Doch auf seinem Gesicht liegt ein Lächeln. Endlich ist sie vorbei, die OP.

Dass er als traditioneller Heiler sich von Schulmedizinern behandeln lässt, ist für ihn kein Widerspruch. „Es gab keine Alternative“, sagt er. Er und seine Familie behandelten schließlich nur Arme, Beine und den Rücken. Aufs Auge verstünden sie sich nicht, und auch sonst wüssten sie niemanden, der traditionelle Heilkunst aufs Auge anwendet. Das ist ein Wunder. Auguste Bicaba, der Arzt, der Noumam soeben operiert hat, sieht jede Woche Patienten, die sich zunächst von einem traditionellen Heiler behandeln ließen. Mittlerweile würden im Radio Aufklärungskampagnen durchgeführt, um möglichst große Teile der Bevölkerung zu erreichen, auch die Analphabeten. Eine OP am Grauen Star kostet umgerechnet rund neunzig Euro. Wer das Geld nicht hat, wird umsonst behandelt, sagt Vater Dominique Nikiema, der Leiter der Augenklinik von Zorgho.

Noumam steht im Hof der Klinik und wartet. Es ist sandig, die Luft trocken und heiß. Palmen und fuchsiafarbene Bougainvilleen säumen den Hof. Sie sehen schön aus, aber viel Schatten spenden sie nicht. Hier, hinter den schmiedeeisernen Toren, ist es still. Und sauber, im Gegensatz zu draußen, wo kaum ein Fleck Erde nicht mit Müll bedeckt ist. Müll in allen Farben. Wenn man weit genug entfernt ist, ergibt das ein fröhliches Bild: die rote Erde mit den vielen bunten Tupfern unter einem tiefblauen Himmel.

Noumam wartet auf seinen Sohn, der ihn zu seinem Zimmer bringen soll. Da kommt er, ein großer, hagerer Mann Ende zwanzig, mit Gebetskappe, weißem Poloshirt, grüner Polyesterjacke und stolzer, aufrechter Haltung. „Zimmer 346“, sagt er zu seinem Vater und hakt sich bei ihm unter.

Eine Nacht soll Noumam zur Beobachtung bleiben. Und um sich auszuruhen. Ruhe ist wichtig. Sein Arzt sagt, es seien schon Patienten gestorben, weil sie sich nicht ausgeruht, sondern sofort wieder gearbeitet hätten, der eine auf dem Feld, der andere als Tischler. Doch Ruhe muss man sich leisten können. „Die wussten gar nicht, wie das geht mit dem Ausruhen“, sagt Noumams Arzt. „Ihr ganzes Leben lang haben die Tag für Tag gearbeitet.“ Noumam kann sich ausruhen. In ein königsblaues Gewand gehüllt sitzt er am nächsten Morgen um acht Uhr früh im Sprechzimmer von Dr. Bicaba. Der Arzt, mit knallbuntem Anzug unter dem weißen Kittel, nimmt Noumam den Verband ab und bittet ihn, von einer Tafel Zahlen abzulesen. Zahlen gehen, bei Buchstaben wäre Noumam überfordert. Wie alle in seiner Familie ist er Analphabet. Seine Freude ist groß: Er erkennt alle Zahlen, bis auf die ganz kleinen in der untersten Reihe. „Das kommt noch“, sagt Dr. Bicaba. Der Arzt spricht Französisch, ein Überbleibsel aus der Zeit, in der Burkina Faso eine französische Kolonie war. Noumam kann kein Französisch. Er spricht Mòoré, eine von 65 in Burkina Faso verbreiteten Sprachen. Ein Übersetzer ist bei der Visite dabei, anders könnten sich Arzt und Patient nicht verständigen. Der Arzt erklärt ihm noch die Medikamente: Tropfen, um das Auge feucht zu halten, Schmerztabletten, wenn es wehtut, und Antibiotika, gegen eine mögliche Entzündung. Vor der Tür wartet Noumams Sohn mit der Reisetasche seines Vaters.

Im Dorf kommen uns fröhliche, winkende Menschen entgegengelaufen, darunter viele Kinder. Es werden immer mehr. Als wir vor dem Haus der Sakandés parken, sind es ein paar Dutzend. Jeder Dorfbewohner, der halbwegs auf den Beinen ist, scheint gekommen zu sein. Es ist schwer zu sagen, ob sie wegen uns Journalisten da sind oder um Noumam nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus zu begrüßen. Vielleicht auch beides.

Im Innenhof seines Hauses nimmt Noumam auf einem kaputten weißen Plastikstuhl Platz. Alle anderen stehen um ihn herum, alte Männer, junge Männer, manche in traditionellem Gewand, andere mit T-Shirt und Jeans. Frauen und Kinder müssen draußen bleiben. Die Mutigen stecken ihren Kopf kurz zur Tür rein. Noumams Ehefrau huscht in den Raum, schnell reicht sie ihrem Mann etwas Wasser, schon ist sie wieder weg.

Alles ohne Geld, angeblich

Der Clan-Chef – ein Verwandter von Noumam, nur ein bisschen jünger – guckt immer den einzigen Mann in unserer Gruppe an, obwohl der gar nichts fragt und nur ein bisschen zuhört. Auf die Frage, warum sie keine Frauen in die Heilkunst einweihen, lacht der Clan-Chef, dann antwortet er, auf ein Smartphone zeigend: „Wir wissen, dass die Welt sich verändert hat und Frauen heute eine andere Stellung haben. Trotzdem haben wir Angst, alles kaputt zu machen, wenn wir unser System ändern.“

Dann lädt uns der Clan-Chef zu einem Rundgang ein. Wir kommen vorbei an einer größeren überdachten Fläche, wo Menschen auf Matten liegen; von den Deckenbalken hängen Plastikbeutel mit Wasser und Maiskolben herunter. Es ist der Wartebereich für die Patienten. Wir kommen an einem größeren Gebäude vorbei. „Hier schlafen unsere Patienten“, sagt der Clan-Chef, nicht ohne Stolz. Ein Großteil des Dorfs scheint aus Räumlichkeiten der Heilerfamilie zu bestehen. Alles wirkt sehr professionell für ein Unternehmen, das angeblich ohne Geld funktioniert.

Der Clan-Chef bringt uns zurück zu unserem Bus. Er habe da von dieser neuen Krankheit gehört, sagt er und meint Krebs. Gesehen hätten sie das ja noch nicht, aber in den Medien spreche man jetzt öfter darüber. Auf die Frage, ob sie Krebs heilen könnten, schüttelt er den Kopf. „Wir verstehen das Konzept noch gar nicht.“

Lea Wagner ist freie Journalistin. Die Reise nach Burkina Faso wurde von Light for the World finanziert

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