Müsste man eine Überschrift für die vielen Veranstaltungen finden, die es zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz gab, könnte sie lauten: „Die Zukunft der Erinnerung“. Direkt nach dem „Nie wieder!“ kam oft das „Wie weiter?“. Es wurde in unterschiedlichen Kontexten diskutiert, und oft waren die Mienen ratlos bis besorgt. Wie lassen sich die 75 Jahre für eine junge Generation überbrücken, jetzt, da die Zeit der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen sich wirklich dem Ende nähert?
Wie man diese Zukunftsfragen beantwortet, hängt natürlich stark davon ab, wie zufrieden man mit der bisherigen Erinnerung ist. Polemisch gefragt: Ist es die Aufgabe, die großartige deutsche Erinnerungskultur zu erhalten, oder zeigen nicht gerade die aktuellen politischen Entwicklungen, dass es keinen Anlass zu selbstzufriedenem Schulterklopfen gibt?
Eine mögliche Antwort auf die Frage nach der Zukunft von Erinnerung liegt so nahe, dass ich mich frage, warum sie so selten gegeben wird. Diese Antwort kommt ganz ohne Hologramme, soziale Medien oder neue mediale Erzählformen aus: Es ist die Auseinandersetzung über persönliche Bezüge. Die Zeit wird dann weniger lang, wenn sie mit eigener (Familien-)Geschichte gefüllt wird. Wenn die Geschichte zur eigenen wird, entsteht automatisch eine auch emotionale Verbindung zu den historischen Ereignissen – eine gute Grundvoraussetzung für die Übernahme politischer Verantwortung.
Stolpersteine
Am 8. Mai schrieb Alexandra Senfft im Freitag (19/2020) über die Rede, die Richard von Weizsäcker vor 35 Jahren gehalten hat. Sie betonte, dass der Bundespräsident die Täterschaft in der eigenen Familie unerwähnt ließ und stattdessen forderte, sich „im Stillen“ über eigene Verstrickungen zu befragen. Damit wurde ein Grundmuster deutscher Erinnerung geschaffen: der Opfer gedenken, ohne die Täter zu benennen. Und tatsächlich werden die Opfer erinnert, ihre Namen genannt und ihre Geschichten recherchiert: Auf goldenen Stolpersteinen scheinen ihre Lebensdaten und die Orte ihrer Ermordung in unserem Alltag auf, in Schulprojekten wird die stufenweise Entrechtung und Verfolgung bis zur Deportation recherchiert – am liebsten vor Ort, das baut Nähe auf.
Dabei entsteht eine merkwürdige Diskrepanz: Während die Geschichten der Opfer so zum Allgemeingut werden, bleiben viele Tätergeschichten unsichtbar und mögen – wer das glauben mag – „im Stillen“ verhandelt werden. Es liegt also vielleicht auch eine Chance darin, dass man sich in Deutschland durch das viel diskutierte Sterben der Zeitzeugen künftig nicht mehr ganz so sehr auf die Geschichten der Überlebenden wird stürzen können. Und eine veränderte Wahrnehmung hat schon eingesetzt:
Unter dem Schlagwort der Kriegskinder oder Kriegsenkel beginnt eine Auseinandersetzung mit den Folgen der Familiengeschichten, mit der transgenerationellen Weitergabe von – ja, von was eigentlich? Senfft warnte im Freitag vor der inflationären Verwendung des Traumabegriffs und pochte auf die Untrennbarkeit des Emotionalen, der historischen Fakten und der Verantwortlichkeiten, ohne die Entpolitisierung und Geschichtsvergessenheit entstehen. Tatsächlich ist das eine nicht ohne das andere zu haben.
Wir kommen nicht aus ohne das Beharren auf den Unterschieden zwischen den Nachkommen der Täter*innen und Mitläufer*innen und der Opfer – sonst öffnen wir Relativierungen und Täter-Opfer-Umkehr Tür und Tor.
Ein zentraler Unterschied scheint mir, dass es neben dem Ausmaß der Verletzungen, die transgenerationell in den Familien weitergegeben werden, eine Asymmetrie der Freiwilligkeit gibt: In jüdischen Familien sind die Verfolgungserfahrungen fast immer präsent, es gibt kaum ein Entkommen vor ihnen, auch wenn hier nicht von einer homogenen Opfergeschichte ausgegangen werden darf.
Nicht alle Überlebenden wurden aus Auschwitz befreit. Die Geschichten von Verfolgung, Ermordung und Überleben sind vielfältig, nicht alle Jüdinnen und Juden in Deutschland haben während der Shoah ihre Familie verloren, und sie machen selbstverständlich nicht die einzige Opfergruppe aus. Und doch: Die Familiengeschichten werden weitergegeben im Sprechen oder Schweigen – und dieses Schweigen ist nicht zu verwechseln mit Verschweigen. Die Unterscheidung deutet es schon an: Wenn wir auf den Nationalsozialismus schauen, stehen sich die Täter*innen und Mitläufer*innen und die Verfolgten als getrennte Gruppen gegenüber. Jedes Verwischen dieser Grenze ist unzulässig, es verrät die Ermordeten.
Die schiere Anzahl derjenigen, die sich mit ihren deutschen Familiengeschichten im Nationalsozialismus erkennbar auseinandersetzen, zeigt, dass es sich noch immer um eine Randerscheinung handelt – für die man sich entscheiden kann oder eben auch nicht. Alexandra Senfft und einige andere haben sich öffentlich auf beeindruckende Weise mit Täterschaft in der eigenen Familie auseinandergesetzt. Dialoggruppen von Nachkommen von Tätern und Opfern suchen diese Auseinandersetzungen in geschützten, nicht öffentlichen Räumen, die KZ-Gedenkstätte Neuengamme bietet Rechercheseminare an, um sich auf die Spurensuche in der eigenen Familie zu begeben. Doch das sind Leuchttürme in einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die zumeist ohne eine Verortung der Lebensgeschichten der eigenen Eltern oder Großeltern auskommt.
Asymmetrische Aufarbeitung
Die Asymmetrie in der Aufarbeitung von Täter- und Opfergeschichten hängt auch damit zusammen, dass Jüdinnen und Juden unabhängig von den tatsächlichen Verfolgungsgeschichten alle vom Vernichtungsantisemitismus gemeint waren, während die Behauptung einer kollektiven Schuld und Mittäterschaft auf deutscher Seite ja bis heute Unbehagen oder Abwehr auslöst.
Die dahinterliegende Komplexität macht auch Sven Rohdes Replik auf Senfft deutlich. So beschreibt er, wie er an die für Kriegsverbrechen zuständige Abteilung des Bundesarchivs in Ludwigsburg schreibt, um Informationen über seinen Vater und seinen Onkel zu erhalten. „Mit Herzklopfen schickte ich sie ab, erleichtert las ich die Antwort: keine Erkenntnisse.“ Und in vielen Familien liegen die Dinge eben nicht eindeutig, die glasklare, aktenkundige Täterschaft, die steile NS-Karriere gibt es da nicht. Es fehlen oft klare Antworten. Aber was dann? Erledigt sich damit eine tiefere Auseinandersetzung? Mit diesen Graubereichen umzugehen, sie einzuordnen und differenziert zu bewerten, ist nicht einfach, ein konstruktiver Umgang mit den Lücken und dem fehlenden Wissen eine ziemliche Herausforderung, will man keinem „wishful thinking“ verfallen, das in eine vorschnelle und vollständige Entlastung mündet. Die Erleichterung über fehlende Akteneinträge scheint mir allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn sie eben kein Ende der Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung der Eltern- oder Großelterngeneration bedeuten – was ich Rohde nicht unterstellen will.
Seit etwa 3o Jahren können wir aber eine Diskursverschiebung in den unterschiedlichen Erinnerungsmedien beobachten: eine Hinwendung zum „Leiden der Deutschen“ – Hunger, Vertreibung, Vergewaltigung als beliebte Topoi neben anderen Entlastungsnarrativen. Doch diese Themen sollten nur mit einer klaren Sprache zu haben sein – Nationalsozialismus und Holocaust sind der Rahmen und kein schwammiges Sprechen über „den Krieg“. So manifestiert sich das Misstrauen gegenüber den Auseinandersetzungen der Kriegsenkel auch sprachlich: Die Selbstbezeichnung als „Kriegsenkel“ weist darauf hin, wo der Ursprung der Verletzungen – um den Traumabegriff zu vermeiden – gesehen wird: im Krieg, weniger im Nationalsozialismus und seiner Verbrechen. Während die Kriegserfahrung hervorgehoben wird, verlieren die oft weitergereichten nationalsozialistischen Werte, die geduldeten oder begangenen Verbrechen und der Verlust eines Weltbildes an Bedeutung. Nazi-Enkel oder Mitläufer-Enkel wäre dann doch die unbequemere Selbstbezeichnung.
Dabei würde die bis heute unzureichende Auseinandersetzung mit Täterschaft in der eigenen Familie eine andere Auseinandersetzung mit den leidvollen Kriegserfahrungen der Deutschen ermöglichen, die damit nicht mehr jeglicher Kausalität entkleidet wären. Das eigene Leid im Kontext des verursachten Leides zu betrachten – im Großen wie im kleinen familienbiografischen Zusammenhang –, müsste kaum um Berechtigung kämpfen. Das Aushalten dieser Gleichzeitigkeiten und Ambivalenzen würde die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in die politische Gegenwart holen. Vielleicht würden sie sogar den Blick auf Kontinuitäten frei machen, eine Perspektive, die wir wenige Monate nach den Anschlägen in Halle und Hanau so dringend brauchen.
75 Jahre nach Kriegsende gibt es in einer postmigrantischen Gesellschaft vieles, das die schlichte Zweiteilung in Täter- und Opfernachkommen als Vereinfachung entlarvt: Denn natürlich sind Biografien komplex. Und doch kommen wir nicht umhin, über das Trennende zu sprechen, das bis heute zwischen beiden Gruppen spürbar bleibt, und dabei in gewisser Hinsicht an dieser vereinfachenden Denkfigur festzuhalten.
Wir kommen nicht umhin, anzuerkennen, dass die einen Toten eben anders gestorben sind als die anderen; sie haben aus anderen Gründen geschwiegen und sie haben von anderen Schrecken erzählt. Ich würde hier gern für eine Verteidigung dieser Unterscheidung plädieren, aber das impliziert ja, sie wäre einmal sicher gewesen und sei erst jetzt in Gefahr. So deutlich die Errungenschaften der deutschen Erinnerungskultur auch sind, die Auseinandersetzung mit den deutschen Familiengeschichten steht in der Breite noch aus – stattdessen wird fortwährend auf die Opfergeschichten geschaut. Viel zu oft erzählen Jüdinnen und Juden ihre Familiengeschichten, während ihr deutsches Gegenüber stumm bleibt. Viel zu oft werden jüdische Überlebensgeschichten zwischen dem dritten und dem vierten Bier ganz selbstverständlich erfragt, während von der anderen Seite nicht gesprochen wird. Sind ihre Familiengeschichten zu privat, zu schmerzhaft, zu unangenehm, um berührt zu werden? Vielleicht läge in der Umkehrung dieser Dynamik eine Chance? Deshalb folgt hier auf die sehr persönlichen Texte von Alexandra Senfft und Sven Rohde keine ebenso persönliche Replik. Es muss jetzt auch mal ohne meine Familiengeschichte gehen.
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