Ein rundum sympathischer Mensch, dieser Iso Camartin: Ohne dass ihn jemand dazu aufgefordert hätte, unterzieht er sich freiwillig einer Tauglichkeitsprüfung. Absolut vorbildlich. Endlich einmal jemand, den man nicht lange drängen muss, ein Formular auszufüllen und peinliche Fragen zu beantworten, dem man seine ethnische, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit nicht erst von der Kleidung, den Gesten und den Sätzen ablesen muss. Camartin bekennt einfach alles ganz von selbst. Und das, obwohl er kein Asyl beantragen will und keine Aufenthaltsgenehmigung nötig hat. Was ihn umtreibt, ist die drängende Frage, mit der sich jeder tagtäglich herumschlägt: "Bin ich Europäer?"
Während verzweifelte Beamte in ganz Deutschland damit besch&
mit beschäftigt sind, untrügliche Kriterien zu finden, mit denen sich die Zugehörigkeit zur westlich-demokratischen Wertegemeinschaft feststellen lässt, ist der Schweizer Literaturprofessor schon längst einen erheblichen Schritt weiter: ihm geht es gleich um den "europäischen Heimatschein". Ohne Not entwirft Camartin schon einmal dessen Konturen, noch bevor die Not in Gestalt einer Behörde auf ihn zukommt. "Was kann ein Rätoromane tun, um Europäer zu werden?", heißt es im Klappentext. Nun, er kann sich zum Beispiel selbst diejenigen Fragen ausdenken, die man beantworten können muss, um wenigstens virtuell schon einmal Träger eines solchen Scheins zu sein. Und um das Resultat gleich vorwegzunehmen: Camartin hat immer schon bestanden. Denn das Beispiel, an dem er sich misst, ist schließlich er selbst.Als Schweizer, zumindest dem Pass nach, und Rätoromane, der Herkunft nach, bringt Camartin die besten Voraussetzungen mit für einen mustergültigen Bewohner eines locker gefügten Europas der Regionen. Da macht es auch nichts, dass die Schweiz auf absehbare Zeit kein Mitglied der Europäischen Union sein wird, wenn man sich nur irgendwie mit demjenigen Kollektiv in Verbindung bringen kann, das die Vermittlungsmaschinen in Brüssel den EU-Menschen so vergeblich nahezubringen versuchen. An Definitionen, was Europa sei, gibt es nun wirklich keinen Mangel: ein Wirtschafts-, Werte- oder Kulturraum, eine geopolitische, kulturhistorische oder supranationale Einheit, eine hohe Festung, ein Club der Reichen oder vielleicht sogar ein multinationaler Konzern. Aber zuletzt ist von all diesen Definitionen nur eine ungeordnete Ansammlung von Identitäten übrig geblieben, die flexibel einsetzbar sind und je nach Anforderung ins Spiel gebracht werden können.Dass es uns ausgerechnet ein Schweizer vormacht, wie einfach es im Grunde ist, sich diese Identitäten anzuziehen, ist vielleicht kein Zufall. Denn niemand würde ernsthaft gerne Europäer sein wollen, wenn er dafür zum Beispiel seinen Schweizer Pass oder seine räteromanische Herkunft hergeben müsste. Die Frage, die sich Camartin stellt, lautet deshalb nicht, ob er entweder ein Schweizer oder ein Europäer ist, sondern ob er, darüber hinaus, dass er erstens Räteromane, zweitens Schweizer ist, auch noch drittens Europäer sein kann. Und die Antwort lautet: kein Problem. Zumindest in diesem Fall nicht. Denn der "europäische Heimatschein" ist alles andere als exklusiv im Hinblick auf andere Scheine, zum Beispiel solche, die einem, wie in der Schweiz, das Bürgerrecht bestätigen. Im Gegenteil, er zeichnet sich durch genau diejenige Flexibilität aus, die das politische Gebilde der Europäischen Union ebenso brüchig wie dynamisch erscheinen lässt. So wie die EU die Nationalstaaten schließlich nicht ersetzen, sondern deren Handlungsmöglichkeiten erweitern soll, muss man sich den Heimatschein, den Camartin in seinem Buch so charmant skizziert, als eine erweiterte Lizenz zum Heimischsein vorstellen. Etwa beim Spazierengehen in der Nähe von fließendem Gewässer: "Ich bin nicht nur mit Rheinwasser getauft, ich höre genau, wie dieser Fluß die lange Reise durch Europa antritt. Ich bin ein Europäer."Wer nicht so feine Ohren hat, dem wird das neue Europa möglicherweise eher wie ein brüllender Riese gegenübertreten. Natürlich ist es kein Zufall, dass der Erfahrungsraum, in dem ein etwas betulicher Schweizer Literatur- und Kulturwissenschaftler sein höchstpersönliches Heimatgefühl auf europäische Dimensionen hochrechnet, ein durch und durch akademischer ist. Ob es sich nun um die sorgfältig eingerichtete Hausbibliothek handelt, in der selbstverständlich eine gebundene Erasmus-Ausgabe vorrätig ist, oder um die paar europäischen Dialekte, die man von gutem Haus aus zu beherrschen gewohnt ist, in der Stille der Studierstube lässt sich aus jedem und allem der Name Europa heraushören: "Ich bin Räteromane. Das ist eine aus dem Vulgärlatein entwickelte und mit anderen romanischen Sprachen verwandte Kleinsprache. Ich bin Europäer." Exklusiv ist der Heimatschein folglich in einer ganz anderen Hinsicht: So wie das feine Gehör muss man ihn sich leisten können.Als Tipp für uns unfreiwillige EU-Menschen, die sich ihre Identität aus derjenigen Erweiterung zusammenklauben, die gerade an der Tagesordnung ist, stellt Camartin im letzten Kapitel seines Buches dann doch noch die entscheidende Frage, nämlich "ob die Schweiz ein Ort ist, um den von europäischen Schriftstellern wieder entdeckten und hoch gepriesenen Charme der Langsamkeit zu erleben". Und weiter: "Es gibt Evidenzen, daß das Modell Schweiz politisch, kulturell und bezüglich Lebensqualität weder altmodisch noch zukunftslos ist." Das wird jeder sofort einsehen und hoffentlich bald zu der Einsicht beitragen, dass nicht die Schweiz der EU, sondern die EU der Schweiz beitreten sollte. Ernst Bloch hat einmal angesichts so behaglicher Vorstellungen spöttisch von einer "Welt-Schweiz" gesprochen. Zum Glück oder Unglück jedoch hat das alles nichts mit dem Europa zu tun, in dem wir zur Zeit leben.Iso Camartin: Bin ich Europäer? Eine Tauglichkeitsprüfung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 128 S., 13,80 EUR
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