Der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser

Mission In seinem jüngsten Buch "Zorn und Zeit" aktualisiert Peter Sloterdijk Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte auf seine eigene, ungenaue Art

Wenn zurzeit über den politischen Islam diskutiert wird, über die weltweiten Gefahren, die von diesem ausgehen, wird meist unterstellt, dass es sich dabei im Kern um eine antimoderne Bewegung handelt. Die Fanatiker, die im Namen höherer Werte handeln, lassen sich schnell als gekränkte Globalisierungsverlierer entlarven, die verzweifelt und mit allen Mitteln der Gewalt den Gang der Weltgeschichte aufzuhalten versuchen. Eine islamische Gesellschaft kann nichts anderes sein als eine unterentwickelte Gesellschaft, die den Anschluss verpasst, sich verrannt hat und deswegen beratungsresistent ist gegen die naheliegendsten Möglichkeiten, doch noch aufzuholen.

Aber der Westen wäre nicht der Westen, die beste aller bisherigen Welten, wenn er seinen Empfehlungen nicht auch Nachdruck verleihen könnte. Neben die kulturpolitischen Ratschläge, schnellstmöglich die Säkularisierung nachzuholen, mit der Aufklärung überhaupt erst einmal zu beginnen und vor allem die rechtsstaatlichen Voraussetzungen für eine funktionierende Marktwirtschaft zu schaffen, treten deshalb weitaus massivere Formen der Entwicklungshilfe, die sich wie im Falle des Irakkriegs als Befreiungsmaßnahmen verstehen. Wo sich der Gang der Weltgeschichte nicht wie bei den so genannten emerging markets der Schwellenländer gleichsam von selbst vollzieht, braucht dieser Gang einen Anstoß von außen. Gesellschaften, die nicht von sich aus die Kraft aufbringen, den Weg zu den Errungenschaften der westlichen Welt zu finden, werden einfach in die Moderne hineingebombt.

Schließlich ist die Globalisierung nicht bloß ein Prozess, der sich seit gut zwei Jahrhunderten wie von selbst vollzieht, sondern ein Imperativ, der aus den ökonomisch-politischen Bedingungen eben jener modernen Gesellschaften resultiert, die sich gegenwärtig als die Hüter einer weltweiten Ordnung verstehen. Dass es trotzdem immer noch so viele Unbelehrbare zu geben scheint, die keineswegs nur in irgendwelchen zurückgebliebenen Weltnischen leben, sondern inmitten jener liberalen Welt des Westens, macht diesen Westen gegenwärtig so ratlos, wie man mit diesen undankbaren Söhnen und Töchtern eigentlich umgehen soll.

Genau diesem Problem hat sich Peter Sloterdijk in seinem Buch Zorn und Zeit angenommen. Schon der Titel, der an Martin Heideggers Sein und Zeit erinnern soll, macht deutlich, dass es Sloterdijk um die Frage geht, wann der Zorn seine Zeit hat und wann es Zeit ist, Schluss zu machen mit dem Zorn. Unter Zorn versteht Sloterdijk dabei nicht nur ein Gefühl unter anderen, sondern einen politisch äußerst wirksamen Affekt, der den historischen Umständen entsprechend mal heroisch-kriegerisch, mal als Stolz der Selbstachtung oder aber auch als Ressentiment der Schlechtweggekommenen auftreten kann. Der Untertitel wird in dieser Hinsicht etwas deutlicher, wenn Sloterdijk in Anlehnung an Spinoza sein Buch einen "politisch-psychologischen Versuch" nennt. Während es dem Philosophen aus dem 17. Jahrhundert in seinem theologisch-politischen Traktat allerdings darum ging, die Sphären der Theologie und der Politik auseinander zu halten, ist es Sloterdijks Anliegen, der politischen Auseinandersetzung mit dem Islam psychotechnisch beizuspringen.

Dazu holt er weit aus in die Geschichte, was bei Kontinentalphilosophen in der Regel heißt: zurück zu den Griechen, wo sich zumindest in der europäischen Geschichte laut Sloterdijk zum ersten Mal so etwas wie eine politische Ökonomie des Zorns finden lässt. Sicherlich kann man darüber streiten, ob die platonische Lehre von den erregbaren Teilen des Gemüts etwas mit dem zu tun hat, was Sloterdijk unter der "Bipolarität menschlicher Psychodynamik" versteht, aber es ist keine Frage, dass es zu jeder Zeit so etwas wie einen Haushalt der Affekte gibt, dem auch eine politische Bedeutung zukommt. Welche Affekte dabei jeweils als gut oder schlecht klassifiziert werden, hängt davon ab, welche Auffassung vom Menschen der Politik des Gemeinwesens korrespondiert. So kann der Zorn sowohl ein willkommenes Instrument der politischen Erregbarkeit sein, als auch ein Objekt von Dämpfungsbemühungen.

Aber wie man auch immer die komplexe Geschichte der Gefühlshaushalte schreiben mag, in jedem Fall wird man dem Umstand Rechnung tragen müssen, dass Gefühle nicht einfach vorhanden sind, sondern Resultate einer ganzen Reihe von Entstehungsbedingungen. Allerdings ist Sloterdijk nicht gerade für seine historische Genauigkeit bekannt, sondern für seine zuweilen auch gelungenen Vereinfachungen. Dementsprechend ist sein Affektmodell ziemlich schlicht und seine These fundamental: Es gibt zwei Fundamentaltriebe, Eros und Thymos, und die politisch wirksame Anthropologie des 20. Jahrhunderts, vor allem die Psychoanalyse, hat den zweiten verdrängt und war daher nicht in der Lage, "mit gleicher Ausführlichkeit und Grundsätzlichkeit von der Thymotik des Menschen beiderlei Geschlechts zu handeln: von seinem Stolz, seinem Mut, seiner Beherztheit, seinem Geltungsdrang, seinem Verlangen nach Gerechtigkeit, seinem Gefühl für Würde und Ehre, seiner Indignation und seinen kämpferisch-rächerischen Energien." Alles das holt Sloterdijk nun auf gut 350 Seiten nach, um zu dem wenig überraschenden Schluss zu kommen, dass auch Menschen, die im Wohlstand leben und deren erotische Triebe dementsprechend zu befriedigen sind, noch eine Reserve an dunklen Triebenergien haben, die sich nicht mit den Versprechen der Konsumgesellschaft abdecken lassen.

Selbstverständlich könnte man versuchen, den zahlreichen Prämissen, auf denen Sloterdijk seine breit angelegte Argumentation aufbaut, nachzugehen, interessanter ist jedoch die Frage, warum und zu welchem Ziel Sloterdijk die Korrektur eines Menschenbildes für nötig hält, das den Menschen vornehmlich als einen homo oeconomicus versteht, der vor allem Bedürfnisse hat und diese Bedürfnisse befriedigt sehen will. Denn im Hintergrund des gesamten Buches steht eine Problematik, die Sloterdijk von Francis Fukuyama und Leo Strauss übernommen hat, den wichtigsten Stichwortgebern der nordamerikanischen Neokonservativen.

In seinem Buch The End of History and the Last Man von 1992 hatte Fukuyama unter Zuhilfenahme von Hegel und Alexandre Kojève argumentiert, dass die Geschichte zumindest im Sinne von politischen Auseinandersetzungen dann zu Ende ist, wenn die überwiegende Zahl der Staaten auf einem liberalen Rechtsmodell basiert, das jedem Staatsbürger eine freie Entfaltung ermöglicht. Während Kojève diese These schon ein paar Jahrzehnte frührer aufgestellt und dieses Ende mit der Entstehung eines Weltstaates verbunden hatte, sah Fukuyama das Ende der Geschichte schon mit dem Ende der Blocksituation gegeben. Aufschlussreicher ist jedoch, dass seine Gegenwartsanalyse auf ein Problem gestoßen ist, das sich in das Bild vom Ende der Geschichte nicht so recht einfügen wollte, nämlich dass zumindest einige Menschen immer noch politische Auseinandersetzungen führen, obwohl es dafür gar keinen Grund mehr gibt: "Die Erfahrung lehrt, dass Menschen, die für die gerechte Sache nicht mehr kämpfen können, weil diese bereits in einer früheren Generation gesiegt hat, gegen die gerechte Sache kämpfen. Sie kämpfen um des Kampfes willen."

Den Schluss, den Fukuyama aus dieser vermeintlich tiefen Einsicht gezogen hat, betrifft eine zentrale Korrektur am liberalen Programm. Allein mit Freiheitsversprechen und ökonomischer Wohlfahrt lässt sich kein Gemeinwesen auf Dauer zusammenhalten. Auch der postheroische und posthistorische Mensch braucht noch eine Mission, damit er nicht auf böse Gedanken kommt und sich aus purer Lust an der Zerstörung gegen das Bestehende wendet. Für die Neokonservativen war diese Mission schnell gefunden: Genauso wichtig wie die Freiheit selbst ist die vorauseilende Verteidigung dieser Freiheit. Inzwischen ist der Weltgemeinschaft schmerzlich klar geworden, was diese Verteidigung der freien Welt alles umfasst. Hätte man sich genauer mit Fukuyama beschäftigt, hätte man schon Anfang der neunziger Jahre wissen können, dass die These vom Ende der Geschichte nicht deskriptiv gemeint war, sondern vielmehr eine historische Mission formuliert, nämlich den imperativen Export des liberalen Programms in die vermeintlich unfreie Welt. Auch die posthistorische Welt der liberalen Demokratien ist demnach auf eine historische Welt der Kämpfe angewiesen, in der sie sich ihrer selbst vergewissern kann.

Die geschichtsphilosophische Einsicht, dass der Westen sich genau in dem Moment nicht mehr als universal verstehen könnte, in dem diese Universalität nicht mehr durchgesetzt werden muss, und deshalb schutzlos seinen eigenen Zerstörungstendenzen ausgesetzt wäre, ist der eigentliche Grund dafür, dass Fukuyama vor der Konsequenz eines Alexandre Kojève zurückschreckte, das Ende der Geschichte mit der Entstehung eines Weltstaates zusammenfallen zu lassen. Stattdessen lieferte Fukuyama das theoretische Rüstzeug für eine neue Außenpolitik nach dem Ende der Blocksituation, in der das unendliche Durchkämpfen des liberalen Programms zu einem wesentlichen Bestandteil dieses Programms werden konnte. Und dafür braucht man eben nicht nur libidinös-ökonomische Tugenden, sondern auch thymotisch-kämpferische Affekte, was Anfang der neunziger Jahre nichts anderes bedeutete, als die westliche Welt auf die Notwendigkeit einer neuen Feindbildung vorzubereiten.

Auch wenn Sloterdijks Buch der Argumentation von Fukuyama kein selbstständiges Argument hinzufügt, so besteht sein theoretischer Einsatz in einer Aktualisierung dieser Problematik im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem politischen Islam. Mit Kojève und Fukuyama geht auch Sloterdijk davon aus, dass die Geschichte durch den Kampf um Anerkennung bestimmt ist, der im modernen Rechtsstaat sein Ende gefunden hat. Um zu zeigen, dass dieser Kampf immer energetische Überschüsse produziert, die auch nach seinem Ende nicht vollständig absorbiert werden können, rekonstruiert Sloterdijk anhand von zwei großen "Zornbanken", nämlich der katholischen Kirche und der marxistischen Partei, eine politische Ökonomie des Zorns, die durch die Zeitspanne zwischen der Investition und der entsprechenden Rückzahlung geprägt ist.

Im Unterschied zu den beiden geschichtsmächtigen "Zornbanken" handelt es sich bei dem Zorn der jungen islamischen Männer, die bereit sind, recht viel zu investieren, nämlich ihr eigenes Leben, trotzdem nur um einen wirkungslosen Einsatz, der den Ausgang der Geschichte nicht mehr beeinflussen wird. Deshalb muss man etwas von der Ökonomie des Zorns verstehen, um mit diesem Einsatz fertig zu werden. Denn gerade weil der politische Islam das Ende der Geschichte nicht mehr rückgängig machen kann, lässt sich dessen thymotischen Regungen nur begegnen, wenn man selbst noch weiß, was das überhaupt ist. Ganz analog zu den amerikanischen Neokonservativen versteht sich Sloterdijk daher als ein Wiederentdecker von solchen Tugenden, zu denen die liberale Welt jeden Kontakt verloren hat. Aus dieser Perspektive betrachtet ist die Auseinandersetzung mit dem politischen Islam alles andere als ein Unheil, sondern ein Faktor der Stabilisierung.

Überall kann man inzwischen hören, dass man wieder wissen muss, wer man ist, um sich mit denen auseinander zu setzen, die das offenbar ganz genau wissen. Gut also, dass es noch Unbelehrbare gibt, die uns zwingen, sie von unseren Überzeugungen zu überzeugen, ansonsten hätte es sein können, dass wir selbst aufhören, daran zu glauben. Dass in diesem Spiel von Projektion und Abwehr sowohl die eigene Lage als auch die Herausforderung des politischen Islam verkannt wird, ist eine andere Diskussion. Aber darüber, dass der gesamte rhetorische Aufwand, den Sloterdijk betreibt, um uns zu versichern, dass die Geschichte nun aber auch wirklich zu Ende ist, ein Symptom der eigenen Unsicherheit darstellt, kann man sich nicht hinwegtäuschen.

Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-Psychologischer Versuch. Suhrkamp. Frankfurt am Main, 365 S., 22,80 EUR

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