Füsse im Himmel II

Literatur und Internet Von den mittelalterlichen Kopisten bis zur Information zweiter Klasse

Früher wusste ich nicht, warum es beim Bahnfahren eine erste und eine zweite Klasse gab. Erstens war die erste Klasse teurer und zweitens die zweite interessanter. Ansonsten gab es keinen wesentlichen Unterschied. Die Aufteilung erschien wie ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert, das nur noch einen Unterschied im Design ausmachte. Die Bahn - und damit die Gesellschaft - hatte ein Legitimationsproblem: Ihre Unterscheidung in Klassen schien bis zur Unkenntlichkeit zu verwischen.

Jetzt gibt es das schöne Wochenendticket. Diese dritte Klasse rechtfertigt die erste und die zweite. Wer einmal damit von Köln nach Frankfurt über Koblenz und Limburg gefahren ist, weiss, dass das Wochendticket kein Sonderangebot ist. Im Gegenteil, für das Wochenende wird die zweite Klasse zur dritten, damit die Gäste aus der zweiten wissen, wofür die erste Klasse da ist. Denn einen Tag lang werden die Müllbehälter nicht geleert und die Flure nicht gesäubert, nicht die Papiertuchhalter nachgefüllt und die Toiletten nicht gereinigt, damit die Günstigreisenden in die zweite Klasse einfallen wie Barbaren, die in der Masse bedrohlich erscheinen. Das nächste Jahrhundert wird das Jahrhundert der Gegenreformation. Je komplexer eine Gesellschaft ist, desto grösser kann ihre Integrationskraft sein, die Fähigkeit, Fremdes nicht bloss als Störung wahrzunehmen und auszugrenzen, sondern zu ihrem eigenen Vorteil zu organisieren. Gegenreformation heisst, dass an die Stelle der ausgelöschten Idee des Politischen das Religiöse tritt. Als der Buchdruck die mittelalterlichen Kopisten ablöste, erkannte die katholische Kirche schnell, dass sich durch diese göttliche Kunst die heilige Schrift viel effektiver verbreiten liess. Genauso schnell setzte sich aber auch die Einsicht durch, dass die Vervielfältigung der Schrift nicht nur das Wort Gottes, sondern auch die teuflischen Fehler multiplizierte. Wurden die katholischen Kopisten noch für solche Fehler mit der Exkommunion bedroht, so lernte die Reformation, die Fehler durch die private Lektüre zu organisieren. Während der Papst gegen den Teufel die Zensur erfand, lehrten die protestantischen Aufklärer den Leser, sein eigener Priester und Ausleger zu sein.

Erst die jesuitische Gegenreformation vollendete diesen Gedanken. Sie machte ein umfassendes Bildungsprogramm zum Grundstein der katholischen Lehre. Man muss sich vorstellen, dass die buchstäbliche Ablösung der Kathedrale der Bilder einen ganzen Berufstand, die malende Zunft, nahezu arbeitslos machte. Die Hierarchie der heiligen Bilder, die sowohl dem Gebildeten als auch dem Ungebildeten durch die Vermittlung der Kirche zugänglich war, tauchte in der literalen Bildung dann als Lateingrenze wieder auf. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts scheiterten die Ziele der allgemeinen Alphabetisierung an dieser Lateingrenze. Erst der moderne Staat organisierte das Problem, das die Aufteilung in Lateinsprechende und Ungebildete barg: den Widerstreit der Interessen. Institutionell etwa in der Gewaltenteilung ausgedrückt wurde der Streit in der parlamentarischen Demokratie zum grundlegenden Moment von Information. Das bedeutete aber auch, dass prinzipiell alle Menschen durch die Schrift einheitlich erreicht werden können mussten.

Historisch nennt man das Aufklärung. Für diese Informationspflicht ist im 20. Jahrhundert das Fernsehen eingetreten, auf das man deshalb auch das literale Modell der kritischen Lektüre oder des kritikfähigen Zuschauers übertragen hat. Aber spätestens hier fällt einem die andere Geschichte der Parallelität von Wissen und Gesellschaft ein. Schon die Renaissancehumanisten zeigten für die spätmittelalterlichen Scholastiker kein Verständnis mehr. Ihr Wissen schien den neuen Gebildeten zu komplex, unnütz und kaum vermittelbar. So urteilte auch die Aufklärung über das barocke Wissen: maniriert, sinnlos und als Ausbildung kaum zu gebrauchen. Im 19. Jahrhundert entschieden die ersten Prototypen von Massenmedien ganz ähnlich über das unüberschaubar gewordene Schrifttum, das von nun an nur noch das Volk, die Nation oder die Gattung meinen sollte. Kino, Volksempfänger und Fernsehen stehen bis heute in dieser Tradition: Das Publikum wird immer größer und die Information immer unspezifischer. Es ist ein beliebter Satz geworden: Was im Buch ging, geht nicht im Fernsehen.

Das Format wird immer kleiner. Die Erfindung des Buchdrucks gegenüber den mittelalterlichen Bildprogrammen macht in dieser Geschichte keine Ausnahme. Spätestens seit der Reformation ging mit der Entwicklung der modernen Massenmedien immer auch ein Verlust des Wissens einher. Schon kurz nach der Einführung des Buchdrucks wurde deshalb der Untergang des elaborierten, handgeschriebenen Buches beklagt. Fortschritt ist immer nur die eine Geschichte der Moderne. Die andere, das Scheitern erzählbar zu machen, konnte so zur Aufgabe von Literatur werden.

Jedes neue Medium verändert die Stellung aller anderen. Deshalb kann heute etwa das Internet eine ganz andere Information bieten als das Fernsehen. Zur Zeit ist Literatur nur dann erfolgreich, wenn sich ihre Themen an andere Themen, die fernsehkompatibel sind, ankoppeln lassen. Das Verhältnis von Zirkulation der Themen und Ausrichtung auf einen Endverbraucher sieht im Internet ganz anders aus. Ein Autor kann sich etwa eine eigene Seite im Internet einrichten, wo er ungedruckte Texte, Ideen, Fotos, seinen Lebenslauf oder einfach Selbtwerbung präsentiert. Durch die Möglichkeit, neben der Prominenz in anderen Medien einen direkten Kontakt zum Autor aufzunehmen, unterscheidet sich diese Kommunikation allerdings sehr von der, die ein publiziertes Buch in der herkömmlichen Medienwelt auslösen kann.

Was sich ändert, sind nicht die Textsorten. Die sind über die Jahrhunderte hinweg erstaunlich gleich geblieben. Man muss einem Text nicht unbedingt ansehen können, in welchem Medium er verbreitet wird. Was sich ändert, ist aber die Art und Weise, wie ein Text in Umlauf kommt. Und das verändert auch die Aufgabe von Literatur. Die Gesamtheit aller vernetzten Einzelkommunikationen kann man nicht mehr mit der Kategorie der Öffentlichkeit beschreiben. Während im Fernsehen noch die Information durch den allgemeinen Empfänger begrenzt ist, wird im Internet alles von der rezeptiven Fähigkeit bestimmt, aus der Menge der Daten Information zu gewinnen. Simulierte bisher das Fernsehen den Traum des öffentlichen Marktplatzes, wird die neue Gewohnheit des einzelnen Datenzugriffs auch hier dem Spartenkanal zum Durchbruch verhelfen. Als die Videothek neben die Bibliothek trat, als auf einmal Filme gleichzeitig zur auswählenden Verfügung standen, drohte das Kino zu verschwinden. Das Bedürfnis nach einem gemeinsamen Ort verschwand nicht. Gegen die Fragmentierung von Welt hat die Literatur zur Zeit so etwas wie eine ganzheitliche Funktion. Aus dem Ort der Kritik ist ein bewahrender Ort geworden.

Aber alle Esoterik ist absolute Rhetorik. Die Kulturtechniken Rechnen, Schreiben, Lesen standen bislang für eine moderne Auffassung von Gemeinschaft. Die gleichen Techniken als Prozessieren, Programmieren und Kodieren werden aber bald auch die Informationsgesellschaft in hierarchische Klassen unterteilen. Ein Netz ohne Zentrum bedeutet nicht unbedingt mehr Demokratie, sondern zunächst die verstärkte Bildung von einzelnen Gruppen. Solche Gemeinschaften werden massgeblich Glaubensgemeinschaften sein, die im Netz Aufmerksamkeit steuern.

Es kommt also alles darauf an, wie diese Gemeinschaften gestaltet werden. Die ersten christlichen Skulpturen und heiligen Bilder wurden vor dem Volk versteckt. Die Angst war gross, dass der einfache Gläubige sie anstelle des Gottes anbeten würde. Es brauchte eine lange Tradition der Bilder, bis der Gläubige im Bild den Glauben selbst anschauen konnte und nicht etwa nur einem Abbild erlag. Genau so viele Generationen von Bilderstürmern brauchte es, bis sich die Trennung von Bild und Wort durchsetzte. Es ist kein Zufall, dass die neuzeitliche Aufklärung das Bild zum Medium der Vorstellung, der Empfindung und der Religion erklärte.

Dabei ist viel vom mittelalterlichen Bildverständnis verloren gegangen. Heute entsteht wieder ein grosser Bilderraum, den viele mit Skepsis begleiten. Die Angst, dass das Wort in diesen Bildraum eingehen könnte, ist die Angst vor dem Untergang des demokratischen Gemeinschaftsverständnisses. Vielleicht müsste Literatur danach fragen, was das Wort in die neuen Bilder einbringen kann. Die Literatur hätte dann die Aufgabe auszuloten, was es in Zukunft bedeuten kann, an etwas zu glauben.

Leander Scholz schrieb im Freitag 16/99 den ersten Teil seines Fin de Siecle-Artikels »Füße im Himmel«. Teil zwei ist sein Beitrag zur diesjährigen Tagung »Tunnel über der Spree« am 10./11. September im Literarischen Colloquium in Berlin.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden