Probleme, sagt man, werden gelöst, indem man sie zerlegt. So lange, bis sie keine weiteren Probleme mehr machen. Ernsthafte Probleme, sagt man, werden gelöst, indem man sie verschiebt. Immer weiter, bis man einen Ort gefunden hat, an dem sie lösbar sind. Unlösbare Probleme dagegen werden aufgeschoben. So weit, wie es eben nur geht. Das hat den Vorteil, dass die Paradoxien dieser Probleme nicht mehr so auffällig sind. Je länger man es schafft, solche Probleme aufzuschieben, desto weiter kann man ihre Paradoxien strecken und vorübergehend entschärfen.
Zum Beispiel, indem man die Zeugung von Kindern in den Dienst der Rentenrettung stellt. Dass die Kinderlosigkeit eine Folge der Anstrengung ist, seinen gerade ergatterten Arbeitsplatz zu sichern, kommt dann nicht mehr in den Blick. Beides scheint glücklicher Weise zu einem anderen Zeitpunkt stattzufinden, so dass man das mit dem Kinderbekommen so weit wie möglich aufschieben lernt. Am besten, man hält sich eine flexible Familie, die immer nur auf dem Weg ist, und wartet, bis die Bedingungen besser werden, was naturgemäß niemals der Fall sein wird. Das krudeste aller Familienbilder ist das der großen Volksparteien. Da sollen dann ökonomische Anreize für die traditionelle Familienplanung innerhalb einer Ökonomie gegeben werden, für die genau solche Familienplanung mit ihren stabilen Lebensstadien nicht mehr zeitgemäß erscheint. Getreu dem alten Motto, dass nur der Speer die Wunde heilt, der sie auch schlug.
In einer Wirtschaftswelt, die den lebenslangen Kindergarten predigt, ist es nicht einfach, Kinder zu finden, die nebenbei andere Kinder aufziehen. Der Einfachheit halber hat man sich deshalb darauf verständigt, die Singles nun zu Sündenböcken zu machen, die noch vor kurzem das Idealbild des rückhaltlos Berufstätigen abgaben. Die Paradoxie besteht darin, dass man zugleich zwei widersprüchlichen Imperativen folgen soll, und zwar einem ökonomischen und einem gesellschaftlichen. Arbeitsleben und gesellschaftliche Reproduktion, die traditionell im Bild der Kleinfamilie mit ihren geschlechtsspezifischen Rollen geordnet waren, kommen schon längst nicht mehr zur Deckung. Dieser Widerspruch wird gestreckt, indem man abwechselnd mal ein bisschen hier steuert und mal ein bisschen dort.
Entscheidend zu einer solchen Problemlösung trägt die pragmatische Haltung bei, immer nur den Teil des Problems zu betrachten, den man gerade vor Augen hat. Ein anderes Beispiel betrifft das schöne Modell des Lebensabends. Die Mittelschichtsvorstellung, dass man mit Mitte Zwanzig ins Berufsleben eintritt, irgendwann eine Familie gründet, ein Häuschen baut, die Kinder das Haus verlassen und man sich mit der Rente auch den Lebensabend verdient hat, gehört für die heute Heranwachsenden einer märchenhaften Vergangenheit an. Es werden immer mehr speziellere Lebenswege möglich und auch nötig, die sich nicht mehr als Ausnahmen darstellen lassen. Sowohl in den Formen des Zusammenlebens, des sexuellen Verhaltens, als auch bezüglich der Lebensstadien. Was man in den letzten Jahren unter dem Stichwort "Jugendkult" diskutiert hat, ist nicht nur die modische Begleiterscheinung einer breit angelegten Marketingstrategie, sondern die Infragestellung der klassischen Lebensalter vom Kind bis zum Greis. Das viel beschworene lebenslange Lernen ist nicht nur eine Frage des Wissens, sondern auch der sozialen Formen.
Was man Jugend nennt, ist deshalb ganz wesentlich mit den produktiven Kräften identifiziert, die intensiviert und biographisch ausgedehnt werden sollen. Wer jugendlich ist, überschreitet permanent die Grenze zwischen Berufsleben und Privatleben und damit auch das Modell der Kleinfamilie als Ort der Regeneration. Diese Jugend ist daher dem Phänomen des Outburn ausgesetzt. Niemand hält einem mehr den Rücken frei. Im Gegenteil, die Patchwork-Familie verlangt mindestens genauso viel Management wie die eigene Karriere. Beziehungen, Ehen, Familien und Freundschaften gehören längst der gleichen Innovationslogik an und bilden keineswegs mehr den lebensweltlichen Gegenpol zur Teilnahme am Markt als Person.
Natürlich findet der geschätzte Lebensabend schon lange nicht mehr im Schoße der nächsten Generation statt, sondern in mitunter sehr kostspieligen Einrichtungen für das Alter. Deswegen soll diese Jugend jetzt selbst vorsorgen für ihr Altwerden, für die Zeit, wo sie zu den unproduktiven Kräften gehört. Kein Berufsanfänger glaubt noch ernsthaft an eine staatliche Rente, deren Beiträge ausschließlich der Finanzierung der jetzigen Renten dienen. Die eigene Rente soll deshalb, wie man so schön sagt, durch ein ominöses Kapital gedeckt werden. Als würde das Kapital von nun an selbständig für einen arbeiten. Die Generation, die die Verlängerung des Industriekapitalismus finanziert, soll zugleich möglichst viel ausgeben, als Jugend agieren und als Jugend angesprochen werden, und möglichst viel sparen und vorsorgen für die Zeit, wo dieser Industriekapitalismus zusammengebrochen sein wird. Der Generationenvertrag kann nicht erneuert werden, nicht weil eine Partei nicht mehr will oder egoistisch ist, sondern weil sich die Bedingungen dafür grundlegend geändert haben. Wenn man sagt, dass es einen Verteilungskampf zwischen Jung und Alt in dieser Gesellschaft gibt, dann sind das die beiden Enden der zeitlich gestreckten Paradoxien, die mit den derzeitigen Mitteln unlösbar sind.
Eine Epoche des Rückschritts erkennt man am besten an dem Wunsch, dass alles wieder so werden soll, wie es einmal war. Ein zweites Wirtschaftswunder wäre das richtige. Oder wenigstens ein kleines. Es herrscht immer noch die Vorstellung vor, man müsste nur ein bisschen fleißiger sein, ein bisschen zuversichtlicher, ein bisschen verzichten können und es müsste ein bisschen mehr Wachstum geben, dann wären die gröbsten Probleme schon gelöst. Anfang der neunziger Jahre plakatierten die Liberalen, Leistung müsse sich wieder lohnen, was umgekehrt heißt, dass man denjenigen Teilen der Gesellschaft, die unproduktiv sind, dies auch sagen müsse. Die Stichworte, die diese Diskussion prägen, von der technologischen Revolution bis zur lean production und vom Ende des Nationalstaates, stammen allesamt aus den späten 80er Jahren. Schon damals war klar, dass sich das, was man unter Arbeit versteht, grundsätzlich wandeln würde und dass eine Vollbeschäftigung vielleicht gar nicht mehr das Ziel sein kann. Man sprach von einem Bürgergeld.
Schon damals sollte der unerträgliche Verkehr möglichst bald auf die Schiene, war das Gesundheitssystem marode, die Rentenkasse überlastet, wurde das 3-Liter Auto versprochen und eine Zunahme an Umweltkatastrophen prophezeit. Das einzige, was sich verändert hat, ist die Mülltrennung, auch im übertragenen Sinn. Denn Globalisierung heißt nichts anderes, als dass man die unproduktiven Kräfte von den produktiven trennt, und das möglichst sauber und möglichst weltweit. Die erste Internationale der Globalisierung heißt deshalb auch einfach Jugend. Solche Globalisierung unterscheidet sich von dem alten Männergesicht des Imperialismus dadurch, dass diese Grenze nicht mehr in irgendeiner fernen Welt, jener berühmten dritten, gezogen wird, sondern jedem Einzelnen abverlangt wird.
In Form einer inneren Globalisierung ist heute jeder bereit, sich selbst zu managen und seine unproduktiven Teile zu zensieren. Für das globale Subjekt der Ich-AG wird daher alles, was in der Welt geschieht, zu einer Art Homestory. Bestand die Idee der Öffentlichkeit einmal darin, sich an die Stelle eines jeden anderen versetzen zu können, geht es heute vor allem um die Immunisierung gegen Probleme anderer. Der Satz, der solche Abwehr begleitet, lautet im Modus eines Gefühlskokons auch meistens "Ich finde". Wenn Probleme keiner Lösung mehr zugeführt werden können, besteht die beste Lösung immer noch darin, Konflikte einzudämmen, um sie in der Phase der unendlichen Steigerung und immer kurz vorm Explosivwerden festzuhalten. Und das kann, wie man an extremen politischen Konflikten sieht, offensichtlich ziemlich lange gut gehen.
Umgekehrt heißt das, dass Ökonomie und Politik immer weiter auseinanderdriften und dass immer mehr Paradoxien, die daraus entstehen, der Gesellschaft aufgehalst werden. So kommt es, dass der Nationalstaat auch nach seinem Ende stets dann gefragt ist, wenn diese Paradoxien zu groß und plötzlich die Ansprüche sehr hoch werden, rettend auf den Plan zu treten. Dass dabei die viel gescholtene politische Klasse versagen muss, ist wahrlich kein Wunder. Es ist schon bemerkenswert, wie schnell sich die Sehnsucht nach dem alten autoritären Nationalstaat und dem alten neurotischen Familienmodell wieder beleben lässt, wenn sie erst einmal überholt sind.
Die Widersprüche, die aus der Ökonomie der Gesellschaft entstehen, werden genau dieser Gesellschaft zum Verhängnis, deren Leidensfähigkeit noch lange nicht erschöpft ist. Getreu der Maxime "Gewinne privatisieren, Verluste vergemeinschaften". Besonders schlaue Betriebswirtschaftler empfehlen daher, den Staat wie ein Wirtschaftsunternehmen zu führen. Nur müsste man dann eine Möglichkeit finden, wie man Bürger gleich Angestellten aus dem Staatsgebiet entlassen kann. Die großen Migrationströme bieten dazu bald Gelegenheit, indem man nicht nur die Zugänge dicht macht und bloß noch qualifiziertes Personal anwirbt, sondern indem man die Lebensbedingungen dermaßen herunterschraubt, dass die Überflüssigen einfach von selbst gehen.
Das Problem ist nicht, dass die Bevölkerung kleiner wird. Das Problem der letzten Jahrzehnte besteht darin, dass sich die produktiven Kräfte grundlegend verschoben haben und dass Arbeit für einen nicht unerheblichen Teil der Gesellschaft zu einer Einnahmequelle unter anderen geworden ist, während für andere ihre schnell verbrauchte Humanressource das einzige Kapital darstellt. Die neuerliche Bildungsdiskussion von der Pisa-Studie bis zur quälenden Kanonfrage steht ja keineswegs unter dem alten Anspruch von Persönlichkeitsbildung und Volkserziehung, sondern unter dem Zeichen einer ungenügenden intellektuellen Fitness im Kampf ums Überleben. Auch hier hat sich das stets passende Credo der liberal gesonnenen Menschen durchgesetzt: Schuld hat, wen es trifft. So manch einer überlegt jetzt schon, seine Eltern zu verklagen, weil sie kein Startkapital in Form einer ordentlichen Erbschaft hinterlassen werden.
Aber man darf sich nicht täuschen. Die unproduktiven Kräfte werden noch weiter zunehmen, selbst wenn es demnächst wieder ein Wirtschaftswachstum geben sollte. So wie ganze Regionen auf der ökonomischen Weltkarte für eine Marktteilnehmerschaft überhaupt nicht erst in Frage kommen, wird es Menschen geben, die nicht einmal als Konsumenten interessant sind. Man wird sich also überlegen müssen, wie man mit diesen ungemütlichen Zuständen in Zukunft umzugehen gedenkt. Man muss kein Prophet sein, um der Sicherheitsindustrie eine gute konjunkturelle Lage in Aussicht zu stellen. Wenn Arbeit nicht mehr die ausschließliche Produktivkraft ist, dann wird man über kurz oder lang das gesamte System der Steuern und der Lenkung umstellen müssen. Man wird die Ökonomie tatsächlich auf die Basis einer Ökologie stellen und endlich die Konsequenzen aus der dritten industriellen Revolution ziehen müssen.
Aber auch hier wird die Frage der Eindämmung der sozialen Probleme wohl wichtiger werden als deren Lösung. Zumindest so lange nicht wieder die Analysen aufgenommen werden, die einmal unter dem Stichwort der politischen Ökonomie verhandelt wurden, gerade angesichts der meistens daneben liegenden Betriebswirtschaft und der überkommenen Volkswirtschaft. Aber solches Vokabular nimmt man ungern in den Mund. Wer über Verlierer und Verluste spricht, läuft Gefahr, sich mit denselben zu infizieren und selber einer zu werden. Einstweilen hat man sich darauf geeinigt, die bösen Strukturen zu bekämpfen, um den Problemen bloß keinen Namen zu geben. Und das wird so lange weitergehen, wie die Parteien allesamt Volksparteien sein wollen und pragmatisch und konsensuell und mitten in der Mitte, um sich nicht der Frage stellen zu müssen, ob diese Gesellschaftsordnung denn die letzte sein soll. Aber das würde den Horizont von vier Jahren überschreiten. So lebt ein jeder in seinem ureigenen Rhythmus.
Eine nahezu geniale Lösung kam kürzlich aus der jüngsten der Zukunftskommissionen, nämlich schlicht und einfach das Rentenalter wieder hoch zu setzen. Abgesehen von der Frage, wer mit welchem Alter überhaupt noch welchen Job machen soll und den Arbeitsmarkt verstopfen darf, könnte eine wirklich drastische Erhöhung wieder den bewährten Tod während der Arbeitszeit möglich machen, was eine ganze Reihe von Problemen lösen würde. Im Gegenzug, nur so als Vorschlag, könnte man vielleicht die Schulzeit für die, die sowieso nichts Richtiges lernen, auf ein minimales Minimum begrenzen. Denn der einzige Arbeitsmarkt, der in den letzten Jahren gewachsen ist, ist der der ungelernten Kräfte. Vorbilder dafür finden sich in der Historie genügend. Auf Vergleiche wird an dieser Stelle verzichtet, aber man darf sie irgendwo im 19. Jahrhundert suchen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.