Europa ist groß und darin verschieden. Zum Auftakt unserer Europa-Serie hatte Herausgeber György Dalos auf das doppelte historische Bewusstsein in Ungarn hingewiesen (Freitag 15/07). Dem Balkan und dessen andauernder Verteufelung widmete sich der kroatische Kultursoziologe Zarko Paic (Freitag 17/07), während die lettische Schriftstellerin Laima Muktupavela vorschlug, die bösen Geister falscher Vorstellungen vom Anderen am Esstisch zu vertreiben (Freitag 21/07). Politisch betrachtet nun der deutsche Schriftsteller Leander Scholz Größe und Verschiedenheit Europas: als Paradox der Souveränität.
Das vereinigte Europa verfügt über zwei Gründungserzählungen. Die eine handelt von der Einschränkung der nationalstaatlichen Souveränität, die andere von der Steigerung dieser Souveränität durch ihre Einschränkung. Die erste Gründungserzählung hat ihre Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, die zweite nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums. Über zwei Jahrhunderte haben sich die europäischen Nationalstaaten in wechselnden Koalitionen gegenseitig in Schach gehalten. Nach dem zweiten Weltkrieg ist an die Stelle der Balance der Kräfte ihre Verflechtung getreten. Man hat die Nationalstaaten nicht mehr entlang ihrer wechselseitigen Machtkonkurrenz verstanden, sondern entlang ihrer wechselseitigen Abhängigkeit. Wenn man dauerhaft verhindern will, dass ein einzelner Staat alle anderen zu dominieren versucht, dann muss man eine Situation schaffen, in der die Machtsteigerung jedes einzelnen europäischen Staates von der Machtsteigerung aller anderen abhängig ist. Die erste Gründungserzählung etabliert ein Gut der Gemeinschaft, das höher ist als jedes Gut eines einzelnen Mitglieds der Gemeinschaft. Wer in die Gemeinschaft eintritt, bindet seine Macht an die Macht der Gemeinschaft. Jeder Konflikt zwischen den Mitgliedern wird ausschließlich durch die Gemeinschaft gelöst. Die erste Gründungserzählung handelt von der Einschränkung der nationalstaatlichen Souveränität zugunsten einer Staatengemeinschaft, in deren Zentrum ein Vertrag steht, der die Rechte und Pflichten der Mitglieder regelt.
Die zweite Gründungserzählung fällt in die Zeit nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums. Sie wendet die Einschränkung der nationalstaatlichen Souveränität nach außen und lässt die Gemeinschaft als eine Union erscheinen, in der sich die europäischen Staaten nur gemeinsam gegen andere außereuropäische Staaten behaupten können. Nur ein Zusammenschluss der europäischen Kräfte ermöglicht es, im globalen Wettbewerb der Volkswirtschaften erfolgreich zu sein. Alle Motive der zweiten Gründungserzählung sind schon in der ersten enthalten: die Friedenssicherung, die Wohlfahrt und die Machtsteigerung der Mitglieder durch die Machtsteigerung der Gemeinschaft. Und trotzdem arrangiert die zweite Gründungserzählung alle diese Motive neu. Als Union erscheint die Gemeinschaft nicht mehr als eine Beschränkung der Nationalstaaten, in der sich die Nationalstaaten vor den Auswüchsen ihrer eigenen Souveränität schützen. Im Unterschied zur Staatengemeinschaft können die einzelnen Staaten in der Union nur deshalb ihre Souveränität weiterhin beibehalten, weil sie Mitglieder der Union sind. Da jeder einzelne Staat außerhalb der Union zu schwach wäre, erlaubt ihm die Mitgliedschaft in der Union, seine Souveränität im globalen Wettbewerb der Volkswirtschaften zu bewahren. Im Übergang von der ersten zur zweiten Gründungsgeschichte hat das Motiv der Beschränkung eine signifikante Verschiebung erfahren. Während die Gemeinschaft die Souveränität der Staaten einschränkt, indem sie von einem Vertrag ins Leben gerufen wird, der von den Staaten ausgeht und auf diese zurückwirkt, verdanken die Staaten in der Union den Bestand ihrer Souveränität der Mitgliedschaft in der Union. In der Gemeinschaft sind die Nationalstaaten das erste, in der Union erscheinen sie als abgeleitet.
Der zentrale Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Gründungserzählung der europäischen Vereinigung besteht in der Art und Weise, wie das Motiv der Beschränkung von der Freiwilligkeit in deren Notwendigkeit überführt wird. Während sich die Gründungsstaaten nach dem zweiten Weltkrieg in der Europäischen Gemeinschaft freiwillig selbst beschränkt haben, erscheint die Mitgliedschaft in der Europäischen Union als notwendig, um unter den Bedingungen eines globalen Wettbewerbs als souveräner Nationalstaat überhaupt überleben und sich zumindest in einem höheren Maß selbst bestimmen zu können als ohne Mitgliedschaft. In beiden Fällen ist das Motiv der beschränkten Souveränität das entscheidende Motiv, das die europäische Vereinigung rechtfertigt, ohne dass die einzelnen Staaten in einem neuen europäischen Staat aufgehen würden. Aber erst die zweite Gründungserzählung schafft ein politisches Gebilde, das auf einer eingeschränkten Souveränität basiert, indem sie dieses Motiv von den Gründungsstaaten loslöst und für einen weiteren Umkreis von Staaten zur Verfügung hält. Denn erst von dem Moment an kann sich die Union als eine Staatengemeinschaft verstehen, die nicht mehr an einen vorab gegebenen Mitgliederkreis gebunden ist und keine prinzipielle Mitgliederbeschränkung außer den Aufnahmekriterien kennt. Nur weil für die zweite Gründungserzählung die Gemeinschaft schon in Form einer eingeschränkten Souveränität ihrer Mitglieder besteht, kann sie diese Form über die Gründungsstaaten hinaus ausdehnen, ohne dabei einer gesonderten Rechtfertigung zu bedürfen. So ist das ursprüngliche Motiv der Beschränkung in der zweiten Gründungserzählung auch dann noch wirksam, wenn der historische Schauplatz seiner Begründung längst verschwunden ist.
Aus diesem Grund lässt sich die Europäische Union weder als eine Freihandelszone verstehen, bei der die Souveränität der beteiligten Staaten nicht eingeschränkt wäre, noch als ein Suprastaat, bei dem die Souveränität der Einzelstaaten auf diesen Suprastaat übergehen würde. Weil stets beide Motive der ersten und zweiten Gründungserzählung wirksam sind, können die Staaten zugleich als Urheber der Union und die Union den Staaten gegenüber als eine eigenständige Instanz erscheinen, die nicht mit den Staaten zusammenfällt. Die Dynamik, die dieser Zustand entfaltet, geht deshalb weit über die Dynamik einer Freihandelszone hinaus, weil dadurch nicht nur eine Zirkulation von Personen und Dingen ermöglicht wird, sondern auch eine Zirkulation von staatlichem Handeln, ohne dass dieses Handeln mehr einem Staat mit einem Staatsvolk zugerechnet werden könnte. Denn während der nationale Gesetzgeber sein Gesetz als gewählter Repräsentant eines Staatsvolks gibt, korrespondiert dem europäischen Gesetzgeber kein Staatsvolk, das in einer gemeinsamen Verfassung seine Einheit finden würde. Indem die jeweils nationale Politik die Verantwortung für die europäische Gesetzgebung nur bedingt übernehmen kann, geht mit der Einschränkung der nationalstaatlichen Souveränität auch eine Einschränkung der Volkssouveränität einher. Denn die Grundlage für das staatliche Handeln des vereinigten Europas ist ein Volk, das es nicht gibt. Was das politische Gebilde der Union ermöglicht, ist daher ein Staat, der wie ein Staat handelt, ohne ein Staat zu sein. Die Dynamisierung, die diese Zirkulation von staatlichem Handeln in Gang setzt, betrifft keineswegs nur die ökonomischen, sozialen und kulturellen Prozesse innerhalb der Europäischen Union, sondern die politischen Grundlagen ihrer Mitgliedsstaaten.
Das demokratische Defizit, das die Europäische Union charakterisiert, ist deshalb kein äußerliches, sondern ein konstitutives Defizit. Denn insofern dieses Defizit zwangsläufig mit dem Prinzip der eingeschränkten Souveränität einhergeht, lässt es sich auch nicht mit einem Referendum oder mit anderen quasi-demokratischen Maßnahmen beheben. Zwar bemühen sich die Institutionen der Europäischen Union darum, die Institutionen eines Nationalstaates zu kopieren, indem ein Quasi-Parlament und eine Quasi-Verfassung geschaffen werden, aber so lange diesen Institutionen kein Staatsvolk zugrunde liegt, handelt es sich eben nicht um das Parlament und nicht um die Verfassung. Wenn ein Nationalstaat darauf basiert, dass die Mitte zwischen der Souveränität der Regierung und der Souveränität des Volkes, die sich in der Regierung verkörpert, die politischen Institutionen eines Staates darstellen, dann basiert das politische Gebilde der Europäischen Union auf dieser Mitte der staatlichen Institutionen, die zwar wie die Institutionen eines Nationalstaates funktionieren, aber sowohl ohne die Souveränität der Regierung als auch ohne die Souveränität des Volkes auskommen. Die Europäische Union produziert das staatliche Handeln eines Nationalstaates, zu dem die Nation jedoch immer nur das Supplement ist, das dem Handeln angehängt wird. Die Einschränkung der Souveränität, die im Zentrum der ersten Gründungserzählung steht, wird in der zweiten Gründungserzählung zur Dauer eines politischen Gebildes, das immer nur auf dem Weg zu einem Staat ist und dessen Nation niemals als solche gegeben sein kann. Ein Europa der Nationen bedeutet umgekehrt, dass es keine europäische Nation gibt.
Mit dem systematischen Verschwinden des Volkes als einer gegebenen Größe der Politik entsteht ein neuer Typus institutionalisierter Politik, dessen Akteure sich nicht mehr als Vertreter einer bestehenden Volkssouveränität verstehen müssen, sondern wesentlich flexibler auf die ökonomischen und sozialen Umstände reagieren können, unter denen ein Volk überhaupt erst zu einem Volk wird. Denn gerade weil das Europa der Nationen keine vorab gegebene europäische Nation kennt und auch nicht kennen kann, können sich die europäischen Institutionen als dauerhafte Gestalter einer unabschließbaren Nation begreifen, die es noch nicht gibt und deren Zukünftigkeit zuerst ihre Gestaltung legitimiert. Ein Staat, der wie ein Staat handelt, ohne ein Staat zu sein, stellt deshalb auch die Grundlagen der Demokratie in Frage, wie wir sie bislang gekannt haben. Die zweite Gründungserzählung der europäischen Vereinigung ist deshalb nicht nur eine ökonomische in dem Sinne, dass sich die Nationalstaaten zusammenschließen müssen, um im globalen Wettbewerb überleben zu können, sondern in dem Sinne, dass die politischen Kategorien der Souveränität in ökonomische Kategorien der Hervorbringung staatlicher Institutionen überführt werden. In diesem Punkt erscheint die Europäische Union zugleich fortschrittlicher und bedrohlicher als alle gegenwärtigen Staatsformen, weil sie es fertig bringt, den Prozess der Nationenbildung, der im nationalstaatlichen Selbstverständnis den Staaten als solchen uneinholbar vorausgeht, in ihre Staatsform zu integrieren.
Leander Scholz,
geboren 1968, lebt als Schriftsteller und Medienwissenschaftler in Bonn. 2000 promovierte er mit einer Arbeit über politische Klugheitslehren, für die er den Bonner Universitätspreis erhielt. Zuletzt erschien von ihm 2005 der Roman Fünfzehn falsche Sekunden.
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