In den letzten Monaten ist die Wirtschaftskrise zu einem Gespenst geworden. Die drastischen Zukunftsszenarien sind verschwunden. An die Stelle des Schocks ist eine Diskussion um Gewinner und Verlierer getreten, wen und wie hart es ihn trifft. Doch niemand scheint sich selbst oder das System selbst grundsätzlich in Frage gestellt zu sehen. Auch wenn in den Wirtschaftsteilen zu lesen ist, dass es, alles in allem, immer noch weiter bergab geht, wird der Alltag der Meisten von dem diffusen Gefühl bestimmt, diese Krise werde schon vorbeigehen wie eine Krankheit, die von den Medizinern als leicht heilbar eingestuft wird.
Offensichtlich ist es einfacher, die Ausmaße einer bevor
3;vorstehenden Krise wenigstens zu erahnen, als eine Krise, in der man sich befindet, angemessen zu erfassen. Auf den Blick in den Abgrund scheint eine Phase zu folgen, deren Optimismus sich vor allem dem Wegsehen verdankt.Nicht nur im Feuilleton ist die Wirtschaftskrise mit der bislang größten Krise in den Dreißiger Jahren verglichen worden. Liest man einmal die Parteiprogramme zur anstehenden Wahl darauf hin, hat man den Eindruck, dass sich die Parteien überwiegend in ihren Grundsätzen bestätigt fühlen. So heißt es im SPD-Programm mit Blick auf die eigene Regierungszeit: „Wir haben in dieser Zeit nicht alles richtig gemacht und manches noch nicht erreicht. Aber unser Kompass ist intakt, die Richtung stimmt. Jetzt nehmen wir einen neuen Anlauf.“ Die verheerenden Aussichten aus dem letzten Jahr, die für die meisten Menschen erst im nächsten zur Wirklichkeit werden, geben somit nur Anlass zur einer Feinkorrektur. Alles in allem kein wirklicher Grund zur Sorge.Kein Grund zur SorgeGanz ähnlich verspricht die CDU einen „sicheren Kurs“, den sie meint, aus ihrer Regierungszeit ableiten zu können: „Alles in allem steht unser Land heute – 2009 – besser für die Zukunft gerüstet da als 2005. Darauf bauen wir auf.“ Die außergewöhnliche Krise erscheint lediglich als ein weiterer Ansporn, um das zu tun, was die Deutschen seit Gründung der Bundesrepublik die ganze Zeit über getan haben: Die meisten waren „fleißig“ und die Kaufleute „ehrbar“.Damit das so bleibt, wollen sich die Christdemokraten auf einen Ordnungsrahmen für den Fleiß und die Ehrbarkeit der Deutschen konzentrieren. Um das Volk nicht in Unruhe zu versetzen, verhalten sich beide Volksparteien selbst so ruhig wie möglich. Als wäre die Schockstarre das allerbeste Mittel, um eine Krise unbeschadet durchzustehen.Man könnte meinen, die kleinen Parteien hätten mehr Spielraum zur Überprüfung ihrer Grundsätze. Im Parteiprogramm der FDP, die sich als wirtschaftsnah versteht, findet man keinen Hinweis auf eine Selbstkritik. Wie schon vor der Krise versprechen die Liberalen auch danach von allem mehr: „Mehr Freiheit und Fairness durch Soziale Marktwirtschaft“, „Mehr Bürgerfreiheit durch mehr Vertrauen, Zusammenhalt und Toleranz“, „Mehr Chancen durch Bildung, Forschung und Innovation“, „Mehr Wohlstand und Lebensqualität durch Freiheit und Verantwortung“.Während die Tugenden der CDU an die vermeintlich heile Welt der 50er Jahre erinnern, setzt die FDP auf die „Leistungsbereitschaft der Menschen“, was sich nach einem verschärften aber trotzdem fairen Wettbewerb anhören soll. Kein Wort dazu, dass tatsächlich immer nur die im Wettbewerb stehen, die keine andere Chance haben. Und deren Zahl wird nun größer sein.Im Programm der Linkspartei kann man dagegen lesen: „Der Kapitalismus hat eine Gesellschaft hervorgebracht, in der die Herrschenden Gier, Geiz, Egoismus und Verantwortungslosigkeit zu Tugenden erhoben haben.“ Um eine neue Wirtschaftsordnung ins Leben zu rufen, zielt Die Linke auf eine Marktsteuerung, die den Kapitalismus schrittweise zugunsten eines „demokratischen Sozialismus“ überwindet.Alles wie gewohntObwohl die Partei annimmt, dass viele Millionen Bürger bereit sind, sich dafür zu engagieren, verlässt sie sich lieber auf die Interventionsmacht des Staates. Während aus Sicht der FDP die regulierende Staatsmacht versagt hat, handelt es sich für Die Linke um eine Widerlegung des Marktradikalismus, auf die deshalb eine Wiederbelebung staatlicher Wirtschaftspolitik folgen muss.Tatsächlich konnte man im letzten Herbst den Eindruck haben, dass die Systemfrage in den Vordergrund der Diskussion rücken würde. Inzwischen überwiegen aber die beruhigenden Stimmen, die das System nicht gefährdet sehen. Die Antworten sind die alten geblieben: entweder mehr Staat oder mehr Markt. Alles wie gewohnt. Nichts Neues.Die SPD wünscht sich einen handlungsfähigen Staat, der das Marktgeschehen ausgleicht; die Linkspartei wünscht sich einen „Schutzschirm für die Menschen“. Um die Handlungsfähigkeit des Staates nicht zu überfordern, schränkt die CDU ihren Schutz auf die Mittelschicht ein. Und die Liberalen sprechen einfach gleich die Krisengewinnler an, die natürlich mehr Chancen als die Verlierer sehen.Auch Die Grünen werben mit einer Zukunft, deren Beginn durch die Krise wohl beschleunigt wird: „Was schon vor der Krise galt, muss jetzt in der Krise erst recht gelten: Unsere Wirtschaft braucht ein neues Fundament.“ Allerdings gibt es für die Ökopartei nicht nur eine ökonomische Krise, sondern darüber hinaus noch die Klimakrise, die Energiekrise, die Nahrungsmittelkrise und die Bildungskrise. Derart viele Krisen erfordern einen „neuen Gesellschaftsvertrags“, der über die gewohnten Antworten hinausgehen soll. Das „neue Fundament“ unserer Wirtschaft soll darin liegen, dass alles ökonomische Handeln an einen ökologischen Rahmen gebunden wird: „nur wer ökologisch produziert, produziert auch ökonomisch vernünftig.“So einfach sich dieser Satz anhört, so radikal sind seine Konsequenzen. Denn er situiert die Handlungsmacht weder im Staat noch im Markt, sondern in den tagtäglichen Entscheidungen eines jeden Einzelnen. Dabei wird dem Einzelnen nicht nur abverlangt, bei jeder Handlung darüber nachzudenken, was ökologisch vernünftig ist, sondern er soll auch jeden anderen dazu anhalten. Ansonsten wäre es auch kein Gesellschaftsvertrag.Ein neues FundamentNachdem im letzten Herbst deutlich wurde, welche Folgen die Immobilienblase für die Weltwirtschaft haben wird, konzentrierte sich die Diskussion auf wenige Verantwortliche. Anfangs erschienen nur wenige Draufgänger als schuldhaft. Dann wurden die Investmentbanken in Frage gestellt. Und schon sehr bald geriet die gesamte Bankenwelt unter Verdacht. Bis jedem klar wurde, dass fast alle Akteure des Finanzmarkts vom Experten bis zum Kleinanleger in die großen Versprechen der Finanzindustrie verstrickt waren.Die moralische Anklage schien derart umfassend zu werden, dass sich viele genötigt sahen, von einer allzu moralischen Betrachtung abzuraten. Längst hat sich eine systemische Perspektive auf die Krise durchgesetzt, die technische Lösungen nahelegt. Weil man der Meinung sein kann, dass der Erfolg moderner Gesellschaften darin besteht, die Frage danach, was vernünftig ist, zugunsten von Regeln und Institutionen aufzuschieben, beruhigt es uns, dass wir auch diese Krise durch bessere Kontrollen lösen können.Wir sind derart daran gewöhnt, auf die Kraft von Regeln und Institutionen zu vertrauen, dass wir moralische Lösungen für nicht besonders brauchbar halten. Das entlastet uns davon, selbst über die Frage nachdenken zu müssen, was vernünftig ist. Wir können uns nach wie vor als Privatmenschen verstehen, die von professionellen Politkern professionelle Lösungen erwarten. Ein neuer Gesellschaftsvertrag hingegen kann nicht von der Politik durchgesetzt werden, sondern muss von der Entscheidungsmacht ins Werk gesetzt werden, die jeder Einzelne in seinem Alltag ausübt.Auch wenn es sich bei der Idee eines „Green New Deal“ um ein Parteiprogramm handelt, so basiert sie doch auf einem Politikbegriff, vor dem sich Politiker normalerweise fürchten: Politik ist nicht nur, was im Parlament gemacht wird, sondern was jedem zukommt, der sich politisch verhält.Wir können nicht wissen, ob die Fundierung unserer Wirtschaft in einem ökologischen Fundament wirklich dazu beitragen kann, alle ökonomischen Probleme zu lösen, die noch auf uns zukommen werden. Aber wir sollten uns nicht länger einreden lassen, die systemische sei die entscheidende Perspektive. Denn möglicherweise ist die Systemfrage eine Falle, in die wir uns gerne begeben, um uns nicht dem Handlungsdruck auszusetzen, das zu tun, von dem wir häufig wissen, dass es das Richtige ist.Weil sich keiner verantwortlich fühlt, fällt es uns leicht, die Schaffung neuer Regeln und Institutionen als professionelle Lösung zu akzeptieren. So können wir die Verantwortung stets auf das System schieben, ob es sich nun um das richtige oder das falsche handelt.Wir sollten vielmehr wieder lernen, unmoralisches Verhalten auch dann wirksam zu ächten, wenn es gegen keine Regel verstößt, und uns endlich eingestehen, dass sich nicht alles durch die Schaffung von Institutionen lösen lässt, die es uns allzu leicht machen, so zu bleiben, wie wir sind. Vielleicht ist die bevorstehende Wahl so uninteressant, nicht weil es nichts Wichtiges zu entscheiden gäbe, sondern weil der Ort der Entscheidung längst nicht mehr im Parlament liegt.
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