Zeige mir deinen Schmerz

IDENTIFIKATION MIT DEN OPFERN François Emmanuels Roman Der Wert des Menschen fragt nach der Ressource Mensch

In einem der Star Trek-Filme taucht unvermittelt ein Halbbruder von Mr. Spock auf und greift in den Kurs der Enterprise ein mit der Losung: Zeige mir Deinen Schmerz. Und gleich fällt die ganze Männerriege um. Denn jeder der führenden Charakterpersönlichkeiten beherbergt in seinem Inneren ein existentielles Leid, das zu nehmen der Fremde verspricht. McCoy etwa, der bei einer tödlichen Krankheit seines Vaters glaubt, als Arzt versagt zu haben, oder auch Scotty oder Mr. Sulu, selbst Spock, dessen Mutter bei seiner Geburt starb: Sie alle zerbrechen bei der Preisgabe ihres tiefsten Schmerzes. Sie alle geben sich der Verführung hin, dass ihnen jemand die belastende Verantwortung nehmen kann. Nur Captain Kirk nicht. Er spricht den legendären Satz, dass er selbst, sein ganzes Menschsein, nur die Summe dieses Schmerzes sei, dass er mit dem dessen Verlust auch die Grundlage seines einmaligen Charakters verlieren würde. Das ist, wie Nietzsche sagen würde, die größte Erfindung des Christentums, die produktive Ausstattung des Unglücklichseins.

In dem Roman Der Wert des Menschen von François Emmanuel wird jene gestandene Männerriege von der Führungsetage eines Unternehmens repräsentiert, deren scheinbar souveräne Protagonisten auf unterschiedliche Weise langsam zerbrechen, als unadressierte Briefe unter den Mitarbeitern kursieren, die eine verdrängte Vergangenheit heraufbeschwören. Es ist ein deutsches Unternehmen mit dem klingenden Namen SC Farb, das die Umstrukturierung einer Niederlassung in Frankreich plant. Begleiten soll diese Umstrukturierung ein Betriebspsychologe, der Ich-Erzähler, der die bedrohlichen Verschiebungen im Bewusstsein der Führungsetage in einem Bericht protokolliert, bis er selbst in die Schuldzuweisungen verstrickt wird. Alles beginnt mit einigen irritierenden Entgleisungen des noch amtierenden Direktors Mathias Just, die zur Folge haben, dass der Psychologe im Auftrag des stellvertretenden Direktors Karl Rose tätig wird. Er versucht, den persönlichen Kontakt herzustellen, holt Erkundigungen ein, macht psychologische Gutachten und glaubt bald, in eine Intrige gegen den Direktor eingespannt worden zu sein, bis sich herausstellt, dass die Briefe, die eine nationalsozialistische Vergangenheit in der Familie von Mathias Just unterstellen, einen völlig anderen Absender haben und letztlich auch einen anderen Adressaten, als zunächst angenommen.

Mathias Just, der aufgrund der schwerwiegenden Vorwürfe zunehmend psychisch instabil wird und in eine Klinik eingeliefert werden muss, ist nur ein zufälliges Opfer. Selbst zwar im konkreten Sinne unschuldig identifiziert er sich aber so sehr mit dem Schuldigsein als Deutscher, dass der Betriebspsychologe zu seinem Beichtvater wird, dass er all seine privaten Leiden in diese letztlich unpersönliche Schuld integriert. Die anonymen Briefe, die diese Kettenreaktion ausgelöst haben, sind Textcollagen aus Briefen des Unternehmens und aus Deportationsanweisungen aus dem dritten Reich.

Ich habe Schlag um Schlag zurückgegeben, mit einer Botschaft, die von niemandem an niemanden gerichtet ist, verstehen Sie?, antwortet Arie Neumann, der bald als Absender entlarvt worden ist, dem Psychologen auf die Frage nach dem Warum. Neumann, der früher selbst einmal für die SC Farb gearbeitet hat, ist einem psychologischen Evaluierungsprogramm des Betriebes zum Opfer gefallen. Zunächst glaubt der Psychologe, Neumann, der kein Jude ist, habe den jüdischen Vornamen angenommen, um sein eigenes Opferdasein mit den Opfern der Nationalsozialisten zu identifizieren, bis dieser ihm beichtet, dass sich sein eigener Vater als Kollaborateur an den Naziverbrechen beteiligt hat. In einem der letzten kursierenden Briefe wird die nationalsozialistische mit der betriebspsychologischen Sprache parallelisiert, und es wird deutlich, dass der eigentliche Adressat der Ich-Erzähler ist. Denn weil sie keine Adresse haben, finden die anonymen Briefe - wie das Buch von Emmanuel - immer denjenigen, der sich angesprochen fühlt.

Der Betriebspsychologe, dessen eigentliche Aufgabe in einer technokratischen Gesellschaft die Stabilisierung der Mitarbeiter, die Erhaltung der Ressource Mensch ist, versagt vor diesem Angesprochensein. Er, der einzige Jude, der sich aber nicht als solcher versteht, wird zum unfreiwilligen Beichtvater, der sich jedoch nicht mehr imstande sieht, den Beichtenden ihre Schmerzen auch zu nehmen. Den Schmerz der nationalsozialistischen Verbrechen, die als historische Gespensterbotschaft noch in der neutralsten Sprache des Technischen weiterwirken, kann niemand auf sich nehmen. Er ist nicht abschließbar, er wird nicht produktiv. Eigentliche Adresse der Briefe ist deshalb der Berufsstand des Psychologen, der sich mit der Frage nach dem menschlichen Faktor, wie sie Mathias Just wiederholt vor sich hin murmelt, auch nach seiner eigenen Funktion befragen muss. Am Ende wird dem Betriebspsychologen gekündigt, er hat den Fall, vor dem auch die heroische Haltung des filmischen Captain Kirk versagt hätte, nicht gelöst. Er zieht sich zurück in eine Klinik für autistische Kinder, eine Allegorie auf das Eingeschlossensein des Menschlichen in seiner Funktion.

François Emmanuel, der selbst Psychiater und Psychoanalytiker ist, hat mit Der Wert des Menschen einen Roman vorgelegt, der die Frage nach dem Menschlichen, wenn es im Begriff der Ressource aufgehen soll, auf nachhaltige Weise mit der Frage nach dem Unmenschlichsten verknüpft, mit der rassistischen Selektion der Nationalsozialisten. Allerdings wäre es vielleicht überzeugender gewesen, dieses Protokoll von hundert Seiten mit großem Durchschuß eine Erzählung zu nennen, klänge auch schlüssiger, wenn auch vielleicht etwas zynisch: Der Wert des Menschen. Eine Erzählung.

Francois Emmanuel: Der Wert des Menschen. Roman. Aus dem Französischen von Leopold Federmair. Kunstmann-Verlag, München 2000, 100 S., 25.- DM

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