Wir haben wieder unser zweiwöchiges Corona-WG-Plenum. Die Luft ist raus. Der Wunsch nach Normalität macht sich breit. Ich kann das gut verstehen. Die Motivation sinkt auch deshalb, weil sich unser Umfeld kaum noch an die Corona-Beschränkungen hält. Alle sind in Aufbruchstimmung: FreundInnen treffen, im Café sitzen, Urlaub planen. Wenn ich nach ein wenig Abstand frage, wird mir dieser zwar eingeräumt, jedoch stellen sich viele dabei so unbeholfen an, dass ich mich frage, ob es die ganzen letzten Wochen gegeben hat. 1,5 Meter sind nicht zwei fußbreit. Die anderen machen ähnliche Erfahrungen.
Nach den Wünschen fangen die Diskussionen an. Argumente werden ausgetauscht, Risiken abgewogen. Während des Gespräch, fängt mein Mitbewohner plötzlich an zu lachen: „Gut, dass wir hier nicht gefilmt werden. Wir erzählen jedes Mal was anderes. Die letzten Wochen hieß es noch, es sei sicherer, wenn wir zu anderen gehen und niemanden die WG hereinlassen.“ Recht hat er. Unsere Aussagen bauen auf so einer fragilen Wissensbasis auf, dass es eigentlich sogar falsch wäre, von einer Basis zu sprechen. Wenigstens ist uns das bewusst.
Nuancen gehen als erstes verloren
In den letzten Wochen fällt mir auf, wie viele Menschen sich eine Meinung zu Corona gebildet haben und mir diese auch mitteilen wollen. Vor allem im Krankenhaus. Spannend ist es schon, während der Coronakrise die Wissensproduktion live miterleben zu können. Aussagen von VirologInnen werden gerne zitiert. Auch wenn dabei Nuancen wissenschaftlicher Erkenntnisse verloren gehen. Das habe ich während meines Studiums auch gemerkt. Meine FreundInnen wollten klare Aussagen von mir: Ist Fett schlecht? Was macht Rauchen? Was halte ich von Psychopharmaka? Auf diese Fragen habe ich keine eindeutigen Antworten. Verschwörungstheorien hingegen sind da ganz klar. Obwohl kritische Aspekte angesprochen werden, wie z.B. die Macht der Pharmafirmen, die Schwäche der WHO, die Autorität der Bill & Melinda Gates Stiftung, gehen diese in Überzeichnungen und Schwarz-Weiß-Denken unter. Die Antworten sind zu einfach. Die Wissenslücken hindern einige nicht daran, ihre Meinung lautstark kundzutun.
Ich frage mich, wie sich Meinungen zu Macht und Wissen verhalten: Wer hat eine klare Meinung? Wer vertritt sie nach außen? Wessen Meinung wird ernst genommen? Von wem wird verlangt, eine Meinung zu haben?
Zu allem gibt es eine Meinung, nur in einem sind sich alle einig
Wenn mir Menschen ihre Ansichten zu Corona erzählen, schalte ich mittlerweile innerlich auf stumm. Ich nicke einfach und bin in Gedanken woanders. Zu vielfältig sind die Aussagen, zu fragil, zu schnell ändern sie sich, wie mir scheint. Doch in einem sind sich fast alle einig: Die älteren Leute, die dürfen nicht rausgehen. Keine Kontakte haben. Nicht einkaufen gehen. Das wäre unverantwortlich.
Ein Maßnahmenpaket, das von vielen jungen Menschen nach spätestens zwei Wochen abgebrochen werden würde. Ein wenig anmaßend erscheint es mir, wenn jüngere Menschen den älteren MitbürgerInnen dies abverlangen. Und da fällt mir eine neue Frage ein: Wer hat über wen eine Meinung? Auf der Geriatrie spreche ich mit den PatientInnen kaum über Corona. Darüber, was die Isolation mit ihnen macht, schon. Jedoch hatte bisher niemand das Bedürfnis, mir seine Meinung zu Corona mitzuteilen. Online wird älteren Betroffenen wenig Raum eingeräumt. Jedenfalls in meinem Newsfeed.
Corona ist nicht der einzige Bereich, in dem sich die PatientInnen „vernünftig“ verhalten sollen. Ich erinnere mich Gespräche mit Angehörigen und den ÄrztInnen. An die PatientInnen wurden Ratschläge gerichtet wie: Sie sollten an der Physiotherapie teilnehmen, ihre Wohnung verlassen oder einer gesetzlichen Betreuung zustimmen. Manches nicken die PatientInnen ab, ein wenig frustriert, wie mir scheint. Manche Szenen erinnern mich an das Buch „Das Alter“ von Simone de Beauvoir, vor allem bei Gesprächen über den anstehenden Umzug ins Pflegeheim; wenn mit Angehörigen über die anwesenden PatientInnen in dritter Person gesprochen wird. Ähnlich kommen mir die an ältere Menschen gerichteten Corona-Verhaltensregeln vor. Schließlich dürfen sie in den allermeisten Diskussionen nicht mitsprechen.
Ich merke auch, wie eingeengt mein Blick als junger Mensch dabei ist. Nach mehreren Monaten weiß ich sehr wenig über den Alltag der PatientInnen. Beim Austausch lerne ich viel. Auf der Geriatrie sehe ich auch Kommunikation, die geprägt ist durch Wertschätzung, Empathie, Akzeptanz der Entscheidungen der PatientInnen, die man selbst so nicht getroffen hätte.
Es ist der Wille des Krankenhauspersonals, der den Unterschied für die PatientInnen ausmacht. In gewissen Situationen war der Blick von außen entscheidend oder ein Ratschlag hilfreich und wichtig. Aber nur dann, wenn die Meinung nicht auf Ignoranz basierte.
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