Aufstand im Warschauer Ghetto: „Eine Frau kämpft?! Die Nazis konnten es nicht fassen“
Jüdischer Widerstand Am 19. April 1943 beginnt der Aufstand im Warschauer Ghetto. Die Historikerin Judy Batalion hat ein Buch über die fast 200 Jüdinnen geschrieben, die dort Widerstand leisteten. Warum vernachlässigte sie die Erinnerungskultur so lange?
Verhaftungen im Warschauer Ghetto. Das Bild entstammt dem Bericht des SS-Generals Jürgen Stroop, der für die Unterdrückung des Aufstands zuständig war
Foto: Courtesy Everett Collection
Jüdische Frauen kämpften in ganz Europa erbittert gegen das Naziregime. Ihre Geschichten wurden jedoch lange Zeit vergessen. Judy Batalion ist selbst Enkelin jüdisch-polnischer Holocaust-Überlebender. Vor 16 Jahren stieß die Historikerin zufällig auf ein kleines Büchlein von 1946 mit zornigen Berichten von Widerstandskämpferinnen. Batalion war schockiert, sie hatte noch nie etwas von den waghalsigen Aktionen dieser Frauen gehört. Seitdem lässt sie das Thema nicht mehr los. 2021 erschien ihr Buch Sag nie es gäbe nur den Tod für uns. Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen (Piper).
der Freitag: Frau Batalion, am 19. April jährt sich der Aufstand im Warschauer Ghetto zum 80. Mal. Welche Rolle spielten
uer Ghetto zum 80. Mal. Welche Rolle spielten Frauen bei diesem Aufstand?Judy Batalion: Der Aufstand wurde von Jugendbewegungen organisiert. Etwa 750 Juden haben mitgemacht und ungefähr 500 gehörten zu den linken Bewegungen, über die ich schreibe. Und von diesen 500 waren fast 200 Frauen. Das waren selbstbewusste Frauen. Während des Aufstands warfen sie unter anderem Molotowcocktails von den Dächern. Eine Frau, Masza Putermilch, berichtete später davon: Ihre Hände zitterten. Sie musste dieses Streichholz anzünden. Als es ihr endlich gelang, warf sei den Sprengsatz und hörte einen Nazi brüllen: „Oh! Eine Frau kämpft?!“ Die Nazis konnten es nicht fassen!In ihrem Buch kann man allerdings auch nachlesen, dass der Widerstand weit mehr umfasste als Molotowcocktails zu werfen.Die Bandbreite des Widerstandes ist wirklich groß: Von jungen Frauen und Mädchen, die Suppenküchen und Untergrundschulen leiteten, heimlich Sportveranstaltungen und Theateraufführungen organisierten oder sich um Waisenkinder kümmerten. Bis hin zu diesen jungen Jüdinnen, die Gestapo-Männern in den Kopf schossen oder Nachschubzüge der Nazis sprengten.Eine besondere Funktion übernahmen die sogenannten Kuriermädchen.Ja, der hebräische Begriff ist kashariyot oder Verbindungsperson. Das waren Frauen, die die abgeriegelten Ghettos miteinander verbanden. Juden waren in den polnischen Ghettos eingesperrt. Wer versuchte, das Ghetto zu verlassen, wurde getötet. Es gab kein Radio, Zeitungen waren verboten. Die Kuriermädchen verließen heimlich die Ghettos, stellten Kontakt zwischen ihnen her und versorgten die Gruppen mit Nachrichten, gefälschten Ausweisen, Medizin, Geld und Waffen. Sie versuchten auch Juden aus dem Ghetto rauszuschmuggeln und sichere Verstecke für sie zu finden.Warum machten das vor allem Frauen?Wenn man das Ghetto verließ, musste man auf der „arischen“ Seite als Christ durchgehen. Das war für Frauen leichter – aus drei Gründen. Erstens waren Männer beschnitten. Wenn ein Mann auf der „arischen“ Seite verdächtigt wurde, Jude zu sein, musste er unter vorgehaltener Waffe die Hosen runterlassen. Diese Gefahr gab es für Frauen nicht. Zweitens, legte man bei Jungen mehr Wert auf die religiöse Erziehung und schickte sie auf private, jüdische Schulen. Mädchen besuchten meist öffentliche, polnische Schulen. Sie waren daher assimilierter. Sie hatten christliche Freunde und kannten ihre Gewohnheiten und Ausdrucksweisen. Männer sprachen hingegen oft mit einem „knarzigen jiddischen Akzent“, der sie verriet. Und drittens war die Nazikultur klassisch sexistisch. Niemand rechnete damit, dass eine hübsche 19-Jährige eine Handtasche voller Munition mit sich herumtrug. Das nutzten die Frauen aus.Inwiefern?Eine meiner Lieblingsgeschichten in all den Jahren meiner Forschung stammt von der Kurierin Lonka Kozibrodska. Sie war eine Meisterkurierin, sie schmuggelte Waffen kreuz und quer durchs Land. Eines Tages war sie unterwegs mit einer Tasche voller Schmuggelware. Sie kommt zum Zug und da: die Gestapo ist vor Ort und durchsucht alle Taschen. Was tut sie bloß? Sie nimmt ihre Tasche, geht direkt auf einen Gestapo-Mann zu und sagt: „Oh meine Tasche ist so schwer, können Sie sie für mich tragen?“ Und natürlich möchte er sich ritterlich verhalten, also nimmt er ihre Tasche und bringt sie in den Zug und niemand kontrolliert sie.Placeholder image-1Wie kommt es, dass diese Frauen sich so selbstbewusst und selbstverständlich am Widerstand beteiligten?Das hat etwas mit dem fortschrittlichen Umfeld zu tun, in dem sich jüdische Frauen im Polen der 1930er Jahre bewegten. Vor allem Warschau war ein hochentwickeltes kulturelles und intellektuelles Zentrum. Das war schlicht ein goldenes Zeitalter. Die Frauen waren gebildet und emanzipiert. Sie besuchten die Schule und die Universität und hatten Jobs außerhalb des Hauses. 1931 waren fast 45 Prozent der jüdischen Arbeitnehmer Frauen. Sie bekamen Kinder erst Ende 20 oder Anfang 30, die Geburtenrate war niedrig. Frauen hatten kurze Haare, trugen Make-up, enge Blazer, kurze Röcke, sogar Hosen und Schuhe, in denen sie rennen konnten.Ein freies, unabhängiges Leben bereitet eine Frau aber nicht unbedingt auf ein Leben im bewaffneten Untergrund vor.Die Jugendbewegungen spielten hier eine entscheidende Rolle. Es gab Dutzende politische jüdische Bewegungen und Parteien in den 1930er Jahren in Polen – kommunistische und antikommunistische, zionistische und antizionistische, religiöse und anti-religiöse und jede nur denkbare Kombination all dessen. Ungefähr Hunderttausend junge, polnische Juden waren in diesen Gruppen organisiert. Das waren emotionale, soziale, intellektuelle, spirituelle Ausbildungsstätten. Die Gruppen, zu denen ich geforscht und über die ich geschrieben habe, waren vor allem linke, sozialistische, säkulare Gruppen. Sie waren egalitär, wertegeleitet und kooperativ ausgerichtet.Und Frauen gaben in diesen Gruppen den Ton an?Ja. Es gab zwar nicht die exakt gleichen Regeln für Männer und Frauen, aber Frauen hatten auch Führungspositionen inne. Und aus eben diesen Gruppen heraus formierte sich später der Untergrund in den Ghettos. Frauen waren es gewohnt, Verantwortung zu übernehmen, es war daher mehr als naheliegend, dass sie das auch im Untergrund taten.Warum spielten diese Frauen in der Erinnerungskultur so lange kaum eine Rolle?Es gibt viele Gründe. Ein Grund hat mit dem Zeitgeist zu tun. In bestimmten historischen Momenten interessieren wir uns für bestimmte Facetten des Holocaust. Zwar schwiegen die meisten Überlebenden, aber in den 1940er Jahren wurden die Geschichten dieser Frauen durchaus erzählt. In den 1950er Jahren setzte allerdings eine Ermüdung ein. In den 1960ern erfuhr man von Auschwitz und dann wurde vor allem darüber geschrieben und gesprochen. Inzwischen gibt es aber ein größeres Interesse an den Geschichten dieser Frauen.Sie beschreiben in Ihrem Buch auch, dass viele Frauen an einer „Überlebensschuld“ litten und deshalb schwiegen.Ja, manche Familien machten den Frauen Vorwürfe, ihre Eltern oder Geschwister für den Kampf im Untergrund verlassen zu haben. Viele Frauen hatten außerdem das Gefühl, dass sie im Vergleich mit den Auschwitz-Überlebenden nicht so sehr gelitten hätten und es nicht verdienten, ihre Geschichte zu erzählen. Dann gab es auch noch diese Vorstellung, dass die „reinen Seelen“ umgekommen seien. Das heißt: Wenn du überlebt hast, hast du etwas angestellt, um davon zu kommen. Du hast dir die Sicherheit mit Sex erkauft oder du hast kollaboriert.Vielleicht ermöglichte das Schweigen auch einen Neuanfang nach den traumatischen Erlebnissen?Auch das. Als der Krieg vorbei war, waren diese Frauen 19 oder 20 Jahre alt, ihr ganzes Leben lag vor ihnen. Sie hatten nichts. Keine Familie, keine Ausbildung. Sie waren Flüchtlinge in fremden Ländern. Sie sprachen die Sprache nicht. Sie wollten eine neue jüdische Generation in einem normalen, glücklichen Umfeld großziehen. Also schwiegen sie lange Zeit. Aber bevor sie starben, begannen diese Frauen doch noch darüber zu sprechen – mit ihren Enkeln oder Wissenschaftlern. Auch deshalb können diese Geschichten heute erzählt werden.
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