Blind in Bezug auf Blond

Die Kosmopolitin Unsere Kolumnistin hat noch nie mit blonden Menschen geflirtet. Sie hatte Angst, sie nicht wiederzuerkennen
Ausgabe 28/2016
Blondes Mädchen mit Lamm. Mehr bleibt bei unserer Autorin leider nicht hängen
Blondes Mädchen mit Lamm. Mehr bleibt bei unserer Autorin leider nicht hängen

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Das Mädchen war blond, das andere auch. Beide hatten sie lange Haare. Und dann saßen sie auch noch nebeneinander. Und sie lächelten, ein sehr hübsches, freundliches, ich dachte: paradehaftes Lächeln, ein deutsches Lächeln, falls es das gibt. Eine hieß Maria, und die andere hieß Lena, oder es war genau andersherum, ich würde es nicht beschwören, und genau hier lag das Problem. Ich konnte sie nicht voneinander unterscheiden.

Die beiden saßen schon den achten Nachmittag hintereinander mir gegenüber, sie nahmen an einer Schreibwerkstatt teil, die ich durchführte. Sie hatten gute Texte geschrieben, und ich hatte diese Texte lektoriert. „Maria“, begann ich zum Beispiel, „wenn du beschreibst, wie deine Protagonisten da im Auto sitzen, und einer von ihnen fehlt“, fing ich an, und wurde augenblicklich von einem der blonden Mädchen unterbrochen. „Ich heiße Lena“, sagte eines der blonden Mädchen, oder eben das andere, „und die Geschichte über das Auto hat sie geschrieben, nicht ich.“ – „Aha“, sagte ich, weil ich es irgendwie peinlich fand, mich den achten Nachmittag hintereinander zu entschuldigen, zumal ich die Namen der anderen Teilnehmer bereits am ersten zuordnen konnte.

Ich habe eine Art elefantisches Gedächtnis. Ich kann die Nummer des Pizza-Lieferdiensts aus meiner Schulzeit auswendig. Ich kann sagen, an welcher Stelle welches Buch in meinen Bücherregalen steht. Ich habe bei Memory noch nie verloren. Ich kann mir nur blonde Menschen nicht merken. Sie sehen alle gleich aus für mich: blond. Das ist nicht als Wertung gemeint, und da stehen auch keine drei Punkte hinter dem Wort, die eine Andeutung sein könnten. Da sind auch keine Studien dahinter, dass blonde Frauen in unseren Breitengraden zuvorkommender behandelt würden als brünette, da könnte mir kein Analytiker Neid andichten, weil ich Locken habe, die sich weder färben noch bändigen lassen.

Da ist noch nicht einmal ein humorloser Blondinenwitz. Da ist nichts. Nur meine Unfähigkeit, blonde Menschen voneinander zu unterscheiden. Vor allem Frauen mit langen blonden Haaren, Frauen mit einem blonden Lächeln und langen blonden Haaren und dieser furchtbar netten Art. Es ist, wie – und jetzt weiß ich nicht, ob man das sagen, geschweige denn schreiben darf, ob das politisch korrekt ist – wenn man bei Menschen aus Asien (hätte ich jetzt Asiaten schreiben dürfen?) nicht sagen kann, ob sie eher aus Japan oder aus China kommen. Sie gehen für mich unauffällig ineinander über. Vermischen sich ineinander und werden unsichtbar und spätestens jetzt uninteressant. Ist das Rassismus gegen blond?

Ich hab mit Männern und Frauen geflirtet, mit Juden und Arabern, mit großen Menschen und kleinen, mit schönen und hässlichen, mit jüngeren und älteren, mit Linksradikalen und einmal sogar mit einem Yachtbesitzer. Niemand von ihnen war blond. Es war keine Entscheidung gewesen, es war vielleicht ein unbewusster Selbstschutz: Ich hatte Angst, sie nicht wiederzuerkennen. In einer Pause der Schreibwerkstatt versuchte ich, das Maria, dem blonden Mädchen, zu erklären, damit sie es auf keinen Fall persönlich nahm. Ich mochte ihre Texte und auch sie. Die andere Blonde mochte ich auch, und vielleicht war es genau andersherum. Das blonde Mädchen unterbrach mich mit: „Ich bin doch Lena …“

Unsere neue Kolumnistin Lena Gorelik ist deutsch-russische Autorin. Zuletzt erschien von ihr der Roman Null bis unendlich (Rowohlt 2015)

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