Schwierig wird das In-München-Leben vor allem außerhalb von München. Lebt man in München und ist man gerade in München, dann ist man eben in München. Lebt man aber in München und ist man gerade nicht in München, dann muss man das In-München-Leben irgendwie immer erklären. Rechtfertigen, entschuldigen gar.
„Und wann fahren Sie wieder zurück nach Berlin?“
„Ich fahre nicht zurück nach Berlin. Ich fahre nach München.“
„Oh, haben Sie da eine Lesung?“
„Nein, ich lebe in München.“
Schweigen. Und manchmal ein mitleidiger Blick. Wer sich rechtzeitig zusammenreißen kann, wandelt das Mitleid in Verwunderung um. (Es geht einfach und schnell: Mundwinkel wieder nach oben führen, dem
nkel wieder nach oben führen, dem Stirnrunzeln erhobene Augenbrauen hinzufügen.) Wer aber jegliche Selbstbeherrschung und Höflichkeitssinn angesichts dieser meiner Mitteilung verloren hat, fügt noch entgeistert und fassungslos hinzu: „Aber Sie sind doch Autorin!“Ja, und lebe nicht in Berlin. Schlimmer noch, ich lebe in München. Und finde das, wenn ich in München bin, auch irgendwie in Ordnung. Das Wort irgendwie ist übrigens in diesem Zusammenhang kein Füllwort.Dem war nicht immer so. München, dachte ich, ist Bayern. Und Bayern stellte ich mir als eine Mischung aus CSU, Fußball und einem Schweinsbraten fressenden und eine Maß nach der anderen saufenden Edmund Stoiber in einer Person vor, sofern man das als Person denn vorstellen darf oder kann. Ich bin trotzdem vor 13 Jahren nach München gezogen (und später immer wieder weggezogen, um doch wieder zurückzukehren), nicht, weil ich diesem München auch nur ein Fünkchen Sympathie entgegenbrachte, sondern weil ich mich dazu gezwungen sah. Fest entschlossen, die Stadt weiterhin zu hassen und jedes einzelne meiner Vorurteile zu bestätigen.An meinem ersten Morgen in München stieg ich an der U-Bahn-Haltestelle Marienplatz aus, um mir beim Bäcker einen Kaffee und ein Brötchen zu holen. „Ein Laugenbrötchen, bitte“, sagte ich, denn ich war in Baden-Württemberg aufgewachsen. „Des heißt Brezensemmel hier“, pampte die Verkäuferin mehr verletzt denn beleidigt zurück, und diesen Satz merkte ich mir, mein erstes bestätigtes Klischee (es war so einfach gewesen!), und an ihm hängte ich mein Münchenbild auf, die Brezensemmel war meine Messlatte für alles, was ich sonst noch entdeckte.Meine erste Mitbewohnerin fand Edmund Stoiber tatsächlich nicht schlecht, sprach Bayerisch, ihre Familie verstand ich gar nicht erst und gab ich mir auch keine Mühe zu verstehen, und das Stoiber-Plakat, das sie angeblich in ihrem Zimmer aufgehängt hatte, erfand ich einfach dazu (Schriftsteller und so), wenn ich am Wochenende (jedes Wochenende!) München verließ, um mich bei Freunden in anderen Städten zu beschweren. Als Autorin, als Künstlerin, ja als frei denkender Mensch könne man da doch nicht leben! In dieser glattgebügelten, selbstherrlichen Stadt ersticke man doch! (Außer Bayern, CSU, Bier und Rückständigkeit natürlich. Ach ja, und der Wiesn, und dass ich Letzteres schon wieder erklären musste. Ich sprach vom Oktoberfest.)Ruhe und das NichtsEs dauerte eine Weile und brauchte längere Aufenthalte in Hamburg, Frankfurt, Toronto und Jerusalem, bis ich entdeckte, dass es in München auch Orte gibt, an denen niemand Brezensemmel sagt und gute Musik läuft, und noch ein paar Monate mehr, um festzustellen, dass sich an diesen drei Orten (Café Kosmos, Substanz, Atomic Café) immer dieselben Leute treffen. Ich grillte an Sommerabenden am Flaucher, einem Isarstrand, trank Radler und zuckte nicht mehr bei jedem „Schmarrn“ und „Ja mei“, das ich hörte, zusammen. Was einem nicht passt, ist a Schmarrn, und wenn es dennoch so ist, dann ist dem eben so. Ja mei. Auf hochdeutsch: Geht mich ’n Scheißdreck an.Und ich begann, mich daran zu freuen, dass München mich nicht stresste. Mir Raum ließ, kurz zu atmen: Die gesellschaftlichen Debatten, die man Deutschland immer wieder führt, scheinen manchmal mit München nichts zu tun haben, es ist, als beobachte man, wenn man diese Debatten verfolgte, ein anderes Land. Teils, weil München diese Probleme nicht teilt (durch Geldmangel verursachte Probleme finden hier höchst selten statt), und teils, weil man in München gerne so tut, als ob: Als wäre nichts.In einer Welt, in der Stress zum Lebensgefühl verkommen ist, ist München die Hauptstadt der Ruhe, man könnte auch sagen: des Nichts, des Stillstands. Ein Ort, an dem man sich nicht auseinandersetzen muss, wenn man nicht möchte, weil man so vielem nicht begegnet: Nicht Armut, nicht Provokation, nicht Integrationsproblemen. Hier ist die Zeit stehen geblieben, ein Phänomen, das die Stadt übrigens mit Bayern verbindet, auch wenn sie sich so gerne von dem Bundesland distanziert. Die Zeit ist hier stehen geblieben, und wann das war, weiß niemand mehr so genau, und niemand fragt nach diesem Wann. Die Wochenenden verbringt man im Englischen Garten, ist stolz darauf, dass dieser größer ist als der Central Park in New York.Man sitzt und liegt und liest die Süddeutsche und ratscht. Man schaut den Surfern am Eisbach zu und hält sich für liberal, weil es hier auch die Nackerten gibt, die man dem Besuch als Beweis für Offenheit vorführen kann. Und vergisst, dass bei der letzten Landtagswahl immerhin 36 Prozent der Münchner die CSU gewählt haben, und dass diese Münchner und noch mehr möglicherweise am kommenden Sonntag bei den Kommunalwahlen dafür sorgen könnten, dass München nun auch von der CSU regiert wird. Unter anderem aus dem einfachen Grund, dass das so sinnvoll nicht sein kann, dass die SPD bereits so lange an der Macht ist. Ein diffuses Gefühl, das die CSU aufzugreifen weiß, indem sie im Wahlkampf traditionell rote Themen besetzt. Hat bei der Bundestagswahl ja auch prima funktioniert.Abends gibt es Kultur en masse und teuer, Kultur, die nichts davon gehört hat, dass sie die Kraft hätte zu verstören, Theater zum Beispiel, dessen Inszenierungen amüsieren, anstatt Fragen aufzuwerfen, zu überraschen. Und all diejenigen, die dieser Kultur entfliehen wollen, treffen sich eben an diesen drei Orten und somit behält Heinrich Heine also Recht, der über München schrieb: „ein Dorf, in dem Paläste stehen“.Kein Stress, keine AngstNee, eigentlich braucht man in München vor nichts Angst zu haben. Außer es macht einem Angst, dass man sein Fahrrad nicht anschließen muss, dass vergessene Gegenstände auch Stunden später an öffentlichen Plätzen wiedergefunden werden können. Erlebnisse dieser Art machen Angst, weil sie die Frage aufwerfen: Was haben die mit den Dieben, den Kriminellen gemacht? Die, also die CSU, obwohl München seit 30 Jahren von der SPD regiert wird. Die, also die bayerische Polizei, die übrigens immer noch grüne Uniformen trägt, die blauen folgen erst in ein paar Jahren. Stillstand, könnte man sagen, man muss aber nicht. Wie glattgebügelt kann eine Stadt denn sein, in einem Land, in dem Unterschiede bis ins letzte Detail beleuchtet und erörtert werden?Vielleicht haben sie die Diebe ins Hasen-bergl gesperrt. Hasenbergl klingt, wenn Münchner den Stadtteilnamen aussprechen, wie die Bronx. Fast flüstert man, wenn man von Hasenbergl spricht. Es dauerte Jahre, bis ich Hasenbergl aufsuchte, weil ich selbstverständlich niemanden kannte, den ich dort hätte besuchen können, bis ich in einem ehrenamtlichen sozialen Projekt mitzuarbeiten begann, wie man das hier so macht. Hasenbergl ist der soziale Brennpunkt der Stadt, der Ausländeranteil liegt bei 27 Prozent. Ich stieg aus der U-Bahn, dachte Berlin-Neukölln, Hamburg-Harburg und eben auch Bronx, und sah helle Neubauten, große Grünflächen, moderne, intakte Spielplätze, ein Sozialeinrichtungsschild neben dem anderen. Und ja, ein paar graue Hochhäuser gab es auch. Ja mei. Weil Hasenbergl wie Hasenbergl klang, tat man das, was man bei Problemen hier tut: Man löste sie. Geld ist da, man gehört ja doch irgendwie, wenn auch ungern, zu Bayern. „Soziale Stadt“ hieß beispielsweise ein Projekt, das bewirken sollte, dass der Wohnraum in Hasenbergl zu je gleichen Teilen aus frei finanzierten Mietwohnungen, Eigentumswohnungen sowie sozialem Wohnungsbau besteht. Projekte wie diese führen dazu, dass München zwar einen höheren Ausländeranteil als Berlin-Neukölln hat, aber laut Studien auch die weltoffensten, zufriedensten und am besten gebildeten.In München hat man keinen Stress, keine Angst und keine Probleme. Die Stadt nimmt 10,5 Millionen Euro im Jahr durch Falschparker ein und stellt Mülleimer mit Noppen auf, damit sie nicht fremdplakatiert werden können. Das hieße verschiedene Meinungen affichieren, und diverse Meinungen hieße Diskussion, und das klingt schon nach Anstrengung und Komplikation. München ist eine Insel: Zwischen Skiorten und Seen, drei Stunden nach Italien und vier nach Wien, nicht ganz in Deutschland und irgendwie in einer eigenen Welt. Man orientiert sich nur an sich selbst und hat mit Deutschland wenig zu tun: Deutschland, das sind die mit Problemen. Weshalb es viele gibt, die bereit sind, ihre SUVs und BMWs vor den 14-Euro-pro-Quadratmeter-Mietwohnungen zu parken.Zwischen der BMW-Welt, den Nackerten im Englischen Garten und den Brezensemmeln geht es einem Münchner ganz gut. Weshalb der Wahlslogan des SPD-Kandidaten Dieter Reiter von außen vielleicht arg einfach klingt, in Wahrheit aber genial ist: „Damit München München bleibt.“ Amen.
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