Als ich klein war, bedeuteten Grenzen das Ende. Sie waren Mauern, unüberwindbare Wälle, dort hörte Leben auf, und es begann etwas, das außerhalb der eigenen Vorstellungskraft lag. Ich wuchs in der Sowjetunion auf, dem größten Land der Erde, etwas, wovon ich keine konkrete Vorstellung hatte, aber ein Gefühl der Stärke umgab es: Dieses Etwas würde mich für immer trennen von dem, was sie den Westen nannten, und das böse und deshalb ein Wunder war. Man rüttelte in meiner Kindheit nicht an Grenzen, auch nicht an Vorstellungen von ihnen.
Als wir nach Deutschland auswanderten, in einem Zug, der in zwei Tagen und zwei Nächten von Sankt Petersburg nach Berlin fuhr, waren Grenzen Orte, an denen die Habgier wartete. Das Geld und alles, was wertvoll erschien an Schmuck, versteckten meine Mutter und Großmutter in ihren Büstenhaltern, damit die Grenzbeamten es uns nicht wegnähmen.
Später, als dieses große Wort Deutschland, Angst und Versprechen, sich mit Bildern zu füllen begann, testeten wir die Grenzen aus wie Kinder, die laufen gelernt haben und nun losziehen wollen, als gehöre ihnen die Welt. Jemand erzählte im Asylantenwohnheim, in dem wir lebten, wenn man mit einem deutschen Reisebus nach Paris führe, würden die Pässe meist nicht kontrolliert; man käme also um das für russische Staatsbürger notwendige Visum herum. Mein Vater war der Erste, der die Reise wagte; er kam am selben Abend wieder zurück, das Gerücht ein Märchen, oder es war einfach Zufall.
Acht Jahre später unterschrieb ich, stolz und ungläubig, ein grünfarbiges Papier, darauf prangte der Bundesadler, der bestätigte, dass ich nun Deutsche war. Den Grenzen durfte ich nun etwas beweisen: Auf der ersten Auslandsfahrt, ein Schullandheimaufenthalt in Italien, hibbelte ich jeder Grenze entgegen, so stolz, einfach nur den Pass vorzuzeigen. Nicht mehr Einzige zu sein, sondern wie alle anderen. Ein Kompliment.
Wir gewöhnten uns so schnell daran, das Land zu wechseln, ohne anhalten zu müssen, normal schon, bevor wir aufhörten, in Mark umzurechnen, und man in der EU dieses Wort vergaß: Grenze.
Der Übergang Bulgarien-Türkei heute: Man hält an, steigt aus, wie früher. Die Lastwagenschlangen sind endlos, bis zu zwei Tagen stehen die Fahrer. An beiden Seiten der Grenze kleine Spielhallen, noch kleinere Supermärkte, Börek und Wasserflaschen, die genauso groß wie die Alkoholflaschen sind. Beamte, die lust- und beinahe bewegungslos Papiere kontrollieren, gelangweilte Blicke in die mit dem Passbild abzugleichenden Gesichter. Grenzwartebereich, ein wieder aufgetauchtes Wort. In Bulgarien, dem ärmsten Land der EU, sind wir durch das Flachland gefahren, vor uns tauchen dunkelgrüne Hügel auf, irgendwo dort ist Muezzin-Gesang zu hören. Auf einem der Hügel etwas, das bisher eher ein Begriff aus den Nachrichten war denn ein Bild: der Zaun, den Bulgarien in Windeseile an der Grenze zur Türkei hochgezogen hat, ein meterhohes Bollwerk mit Stacheldrahtschnecken obenauf, die im Sonnenlicht glänzen. Zwischen den Lastern, die Beton und Fisch transportieren und Touristen, die an den Strand eilen, erstarrt der Blick. Grenzen, sichtbare, schmerzhafte, denn das sollen sie: Schmerz zufügen jenen, die ihr Leben zu retten versuchen. Die Außengrenze, auch so ein Wort, das man mit dem Ende des Eisernen Vorhangs zu vergessen gemeint hatte. Irgendwann rücken die Autos vor, wir sind dran, dürfen die Grenze passieren. Wir schon.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.