„Diese Ausländer!“

Verkehrsalltag An der roten Ampel findet unsere Autorin die Zeit, über ihre Vorurteile nachzudenken
Ausgabe 45/2019
Ein bisschen Missmut an der Ampel ist noch kein Grund, gedanklich rechts abzubiegen
Ein bisschen Missmut an der Ampel ist noch kein Grund, gedanklich rechts abzubiegen

Foto: Imago Images/Imagebroker

Ich ärgere mich nicht über andere Autofahrer, dazu bin ich selbst darin zu schlecht: im Autofahren. Ich weiß nicht einmal, warum ich das tue. Auto fahren. Über die kurze Ampelschaltung kann ich mich noch ärgern, über die eigenen Pläne. Darüber, dass ich nicht rechts abbiegen muss zum Beispiel, die Rechtsabbieger kommen schneller voran.

Neben mir kriechen die Autos vorwärts, ein blaues, ein graues, ein weißes. Aus dem weißen Auto dröhnt Musik. Es ist kalt, darüber ärgere ich mich, blöder Herbst, die Autofenster sind zu, meine, die des weißen auch, aber die Musik kann ich hören. Ich spüre sie, beinahe wie in der Disco, als vibrierte ich mit. Deutscher Hip-Hop, hol dir die F***, nimm sie dir, und ich blicke fassungslos hinüber, und die Männer grinsen mich an. Der Fahrer, der Beifahrer, und hinten sitzen tatsächlich zwei Mädchen, deren Gesichter erkenne ich nicht. Vielleicht grinsen die Mädchen auch, obwohl sie ihn hören, diesen Text.

Die sehen türkisch aus, denke ich. Denken tut man das ja, noch denke ich ja nur und schreibe es noch nicht auf, und ich muss mir also jetzt auch noch nicht überlegen, ob ich Begriffe wie „phänotypisch“ in den Satz einbauen sollte und ob ich die Region zur Beschreibung besser hernehme als das simple Adjektiv „türkisch“, weil das irgendwie gleich ein bisschen rassistisch klingt.

Obwohl es de facto nichts weiter ist als eine Landeszuschreibung. Und dann denke ich noch, warum hören die denn nicht türkischsprachigen Hip-Hop? Dann müsste ich den Text jetzt nicht verstehen, und dann würde ich jetzt vielleicht tatsächlich ein bisschen mitwippen, so auf dem Sitz, und die Jungs im weißen Auto neben mir angrinsen, einfach so, weil sie mir diese blöde Autofahrt – Schaffe ich es wohl überhaupt heute noch über die Ampel? – ein kleines bisschen netter machen, versüßen wäre zu viel gesagt.

Schadenfroh wäre ich auch, weil ich denke, dass das ältere Ehepaar im Auto vor mir – und jetzt müsste ich ein passendes Automodell einfügen, da ich schon so stereotyp denke, aber ich kenne mich nicht genug aus mit Autos, obwohl Wissen für Stereotype ja eigentlich keine Voraussetzung ist –, also schadenfroh wäre ich, weil das ältere gediegene Ehepaar im Auto vor mir sich bestimmt, ganz bestimmt aufregt „über diese Ausländer“ und „ihre Musik“. Und die Lautstärke natürlich. Über die Lautstärke sollen sich alle aufregen dürfen, über diese Anmaßung, zu glauben, dass die ganze Welt gleichermaßen am eigenen Musikgeschmack interessiert sei.

Warum unterstelle ich diesem Ehepaar, rassistisch und fremdenfeindlich zu denken, „bei uns“ höre man nicht so laut Musik, und „die sollen doch ihren Lärm“, und überhaupt, wenn sie schon hierherkommen, „anpassen“?

„Bei uns“ sind zwei Silben, sind sechs Buchstaben, sind eine zugeknallte Tür, ein Regelwerk, das alles, was nicht von uns ist, ausschließt. Der Verkehr kriecht wirklich langsam voran, die Ampel wird grün, aber aufgrund einer Baustelle schaffen es nur drei Autos über die Ampel.

Ich kralle die Finger ins Lenkrad, als sei es am Stau schuld. Das weiße Auto aber lässt den Motor aufkreischen, als es anfährt, sodass er die Musik übertönt. Zwei Blicke zu mir, die sagen, na, wie findest du das? Ich blicke weg, blicke nach vorne, ich stehe immer noch an derselben Stelle, habe genug Zeit, weiter über meine Stereotype nachzudenken.

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin über interkulturelle Begebenheiten für den Freitag

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