Zu den Dingen, die ich an Deutschland nie begreifen werde, wie das obligatorische Tatort-Schauen am Sonntagabend, gehört auch dieses eine Wort – obwohl ich doch auf Deutsch denke, träume und Romane verfasse: besinnlich. Das ist ein saisonales Adjektiv, eines, das man in dieser Jahreszeit verwendet. Ich tue es auch, ich tue es sogar außerordentlich gerne: „Ich wünsche Dir/Euch/Ihnen ein besinnliches Weihnachtsfest“ ist ein Satz, den ich gerne auf Weihnachtskarten schreibe, die ich so ungern schreibe, vielleicht weil ich auch deren Sinn nicht kapiere.
Dieses streberhafte Ich-habe-an-dich-gedacht, das eine glatte Lüge ist: Man hat nicht an ihn oder sie gedacht. Man hat an Weihnachten gedacht. Und ist dann systematisch sein Adressbuch im Handy durchgegangen, hat sich daran erinnert, dass er/sie einem im vergangenen Jahr auch eine Karte geschickt hat, auf dem er/sie einem ein besinnliches Weihnachtsfest wünschte. Und dass sie doch Plätzchen vor die Tür gelegt hat, oder war es schon vorletztes Jahr? Was weiß ich.
Jedenfalls wünsche ich den Menschen, denen ich an sich nicht gern was wünsche, gern ein besinnliches Fest. Es ist, als könnte ich damit zwischen die großen Buchstaben (so ist die Karte schneller beschrieben) ein Geheimnis, etwas Traumhaftes hineinbringen. Ich kenne niemanden, der sie kennt, diese Besinnlichkeit, die wir einander so eifrig wünschen. Wo ist sie, wonach riecht sie, und hat sie jemals gesprochen? Man sagt, sie sei ein schweigsames Wesen, aber auch darüber spricht man nicht viel. Besinnlich: Meine Nachbarin ist gestresst, weil sie es dieses Jahr wohl nicht schaffen wird, alle Plätzchensorten zu backen, meine kranke Freundin findet, sie muss schnell gesund werden, weil doch so viel zu tun ist, weil bald Weihnachten ist. In der Stadt werde ich noch mehr angerempelt als sonst, dieses Fremdkörpergefühl, im Kalten, man fragt mich, ob ich im Weihnachtsstress überhaupt noch zu diesem oder jenem komme, und an der Schule meines Sohnes fand das Adventsfest vorsichtshalber bereits im November statt – um dem Stress zu entfliehen; der Besinnlichkeit entgegen.
Das ist nicht diese alte Leier, von der jeder kitschige Weihnachtsfilm handelt: dass man den Sinn von Weihnachten vergisst. Am Ende all dieser Geschichten hat immer jemand etwas Gutes getan, der Weihnachtsbaum leuchtet. Das ist dann schön, ich muss dann auch weinen, aber mit Besinnlichkeit hat das immer noch nichts zu tun. Sondern mit dieser bitteren Alltagserkenntnis: dass man zu oft vergisst, das Gute zu tun im Leben. Auch das ist – und es sollte vor allem – kein saisonales Besinnen sein.
Vielleicht kommt „besinnlich“ auch von „sinnlich“: Köstliche, leicht angebrannte Gans, dieses Schlachtfeld danach in der Küche, die Ästhetik der Geschenkanhänger, die farblich zum Geschenkpapier passen. Die Ästhetik einer goldenen Spitze auf einem immer leicht schiefen Baum. Ich brauche, auch das ist vielleicht das Nicht-Deutsche an mir, immer ein paar Tage länger, bis mich dieser Weihnachtsstress, oder formulieren wir es mal wertfrei, Weihnachtstrubel ereilt. Deshalb schaffe ich es nie, Plätzchen zu backen (ich kriege aber wahnsinnig gerne welche geschenkt und esse sie noch viel lieber). Ich nutze diese Zeit meist zum besinnlichen, leicht zynischen Beobachten der Menschen: Man rennt in die Stadt, um dann mit Tüten heimzukehren, leicht angeschwipst, des Glühweins wegen. Am Tag nach Weihnachten sind die Papiermülltonnen schnell voll.
Kommentare 14
Vielleicht ist Weihnachten ja wenigstens ein konkreter Restdruck (neben Geburtstagen), denen, an die man gelegentlich tatsächlich denkt, wenigstens dann mitzuteilen, dass man gelegentlich tatsächlich an sie gedacht hat, man schenkt ja nicht jedem was, schreibt nicht mal jedem eine Karte. Ansonsten denkt man nämlich oft, wen man mal wieder treffen, anrufen, kontaktieren müsste, eigentlich ... und wenn dann ein paar Jahre rum sind, ist es einem so peinlich, dass man sich nie gemeldet hat, dass man sich nun erst recht nicht mehr meldet.
Unter Besinnlichkeit verstehe ich ein in sich gehen, vielleicht das Jahr Revue passieren zu lassen, die andere Zeit im Verhältnis zur ansonsten normalen Arbeit. (Da war ja früher mehr von: Nicht nur Lametta und Schnee, auch Feste, hört man. Heute hat man weniger Feste, lebt aber zur Strafe länger.)
Vielleicht konnte man das früher tatsächlich besser. Angeblich, wieder so‘ne Statistik, hat man heute so viel Freizeit, wie noch nie im Leben, tatsächlich merken wenige was davon oder rutschen gleich durch in die Langeweile, die dann durch virtuelle Kontakte wieder beseitigt wird. Gründe gibt es, einer mag sein, dass so ein Modus dauernder Aktivität und äußerster Belastung oft mit einem gewissen Stolz getragen wird. Termine, Termine, wie ein Topmanager, aber chronisch klamm, das ist doch gaga, soll vermutlich eine Art von Bedeutsamkeit suggerieren. Hach, was ich noch alles machen muss.
Da gehe ich lieber spazieren, das ist durchaus zuweilen besinnlich, wenn sich die Kontinuität der ähnlichen Strecken mit dem Wandel der Jahreszeiten verbinden. Wenn man riecht, dass jemand Essen kocht, wenn man im warmen Sommer durch einen Wald geht, fast unbeschwert, weil es warm ist, nach Blüten riecht und das Licht grün ist, toll. Ich mag es, dabei Radio zu hören und wenn man den Wechsel dann sieht, riecht, fühlt, wenn man eine philosophische Sendung hört, ein interessantes Gespräch, gelegentlich Musik und Eindrücke der Innenwelt und Außenwelt ineinander fließen, dann ist das großartig.
@Moorleiche
»...durch einen Wald geht....dabei Radio zu hören»
Beim Autofahren, gut. Aber beim Spaziergang im Wald?
Banause!!!
Ich wünsche Dir ein «besinnliches Fest». Schön, dass Du wieder da bist.
Das geht mir auch so: Im Wald will ich Singvögel und den hämmernden Specht hören. Und manchmal im Frühsommer den Kuckkuck.
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> Vielleicht so?: Leise dieselt der Schnee. Still und brav scheint der Seehofer ° Weihnachtlich twittert der Trump: Freue dich, Brexit kommt bald! * der Seehofer stört eigentlich überall, daher auch in meinem Gedicht.
Das Prädikat "besinnlich" für Weihnachten kommt vielleicht aus der Zeit der beiden Weltkriege. Von dort wird ja immer mal wieder kolportiert, die Soldaten hätten zu Weihnachten die Waffen schweigen lassen, auf den primitiv dekorierten Weihnachtsbaum neben ihrem Schützengraben geglotzt und wehmütig an ihre Lieben daheim gedacht. Dabei lauschten sie andächtig den Weihnachtliedern, die aus den Schützengräben des Feindes zu ihnen herüber waberten.
Sich besinnen geht heute schon auch. Man muss dafür halt mal auf den Rummel verzichten. Oben wurde ja schon der Waldspaziergang erwähnt, konsum- & rummelfrei.
>>Ich lasse mir doch nicht über ein Ritual vorschreiben, wie ich diese Freitage vom Arbeitsalltag verbringen will.<<
Ja. Man meint zu müssen was man nicht wirklich muss. Wirkt da ein Herdentrieb? Reklameleithammel sagen wo es lang geht und alle hammeln mit?
Der Weihnachtsmann ist eine Kreation der Coca Cola Company hab ich mal gelesen.
Schöne Freitage wünsch ich Dir auch.
>>Man stelle sich vor, das wäre Realität: Die Menschen sind bei Besinnung.<<
Es wäre marktschädigend, profitschädigend, wirtschaftsfeindlich. Der Untergang des Arbeitslandes.
freudscher Vertipper
>>...des Arbeitslandes.<<
"...des Abendlandes" meinte ich.
Dito und danke.
Mein Radio ist hochmodern, das hat so einen Knopf zum Lautstärke regulieren, so dass akustischer Raum für Gevögel bleibt.
"Es bleiben nur kurze Momente, wie der Waldspaziergang."
Neenee, eben nicht. Wir haben das ja zu einem Teil selbst in der Hand. Nicht abkapseln, sondern einbinden. Nicht einmal im Jahr entkommen, sondern so oft, wie es geht. So dass das Entkommen einfach ein fester Teil des Lebens wird. Der Waldspaziergang ist sowohl konkret, als auch symbolisch gemeint, kann auch das Kaffeehaus oder Theater sein oder mit dem Buch in der Wanne zu versinken.
Die besinnliche Auszeit sollte nicht verordnet werden, höchstens von einem selbst und ist nur bedingt von der Fähigkeit abhängig, am großen Konsumrausch teilhaben zu können.
"Besinnlichkeit", nicht zu verwecheln mit "Besonnenheit", gehört zum Jargon der Eigentlichkeit und hatte in substantivischer und adjektivischer Form Anfang der 50er Jahre Hochkonjunktur. Der Ex-Nazi Otto Friedrich Bollnow, den Adorno als Musterautor der JdE zitiert, schrieb noch 1978 in seinem an japanische Studenten gerichteten Büchlein "Die Ehrfurcht vor dem Leben" folgende Sätze fürs Poesiealbum:
"Wenn der Mensch im Getriebe des Alltags einmal innehält, in einer besinnlichen Stunde oder aufgeschreckt durch ihm begegnendes Unheil, dann drängt sich ihm das Rätsel des Lebens mit unwiderstehlicher Gewalt auf, und er versucht, in seinem Nachdenken Licht in das Dunkel zu bringen und die Widersprüche, soweit er es vermag, aufzulösen. „Denn“, wie der Philosoph Wilhelm Dilthey einmal sagt, „in dem geheimnisvollen, unergründlichen Antlitz des Lebens, mit dem lachenden Mund und den schwermütig blickenden Augen, suchen alle Geschlechter denkender und dichtender Menschen zu lesen".... Wenn diese Texte in aller ihrer An-spruchslosigkeit auch japanischen Lesern in der Besinnung auf ihre Lebensfragen ein wenig behilflich sein können, so haben sie damit ihren Sinn erfüllt."
In diesem Sinne
sinnliche Weihnachten
Lasst euch sinnlich besonnen, lebt in üppigen Wonnen, zwischen Nadelgrün und Kerzenlicht - und vergesst für den Moment einmal eure Gischt.
Vergesst Kalorien und Blutzuckerwert, besinnt euch, besonnt euch ganz unbeschwert.
Spielt mit den Kindern Lego und Eisenbahn, und schnauft euch nicht wegen politischer Statements an.
Wälzt euch sinnlich in Federn, wälzt euch fröhlich im Schnee, sagt eurem Alltag ein kleines Ade.
Dann kehrt zurück, mit ein paar Kilos zu viel, und startet hinein ins Alltagsspiel ...
mit dem üblichen Ärger, Hetze und Stress - immerhin hattet ihr ein wohlig üppiges Fest!
Na denne Frieden auf Erden und dem Menschen einen Wohlgefallen- mein liebster innigster Wunschspruch.