Eine glatte Lüge

Die Kosmopolitin Weihnachten ist ein besinnliches Fest? Unsere Kolumnistin behauptet das Gegenteil
Ausgabe 49/2018
Die Deutschen machen sich jedes Jahr den gleichen Stress. Doch wofür das alles?
Die Deutschen machen sich jedes Jahr den gleichen Stress. Doch wofür das alles?

Foto: Christof Stache/Getty Images/AFP

Zu den Dingen, die ich an Deutschland nie begreifen werde, wie das obligatorische Tatort-Schauen am Sonntagabend, gehört auch dieses eine Wort – obwohl ich doch auf Deutsch denke, träume und Romane verfasse: besinnlich. Das ist ein saisonales Adjektiv, eines, das man in dieser Jahreszeit verwendet. Ich tue es auch, ich tue es sogar außerordentlich gerne: „Ich wünsche Dir/Euch/Ihnen ein besinnliches Weihnachtsfest“ ist ein Satz, den ich gerne auf Weihnachtskarten schreibe, die ich so ungern schreibe, vielleicht weil ich auch deren Sinn nicht kapiere.

Dieses streberhafte Ich-habe-an-dich-gedacht, das eine glatte Lüge ist: Man hat nicht an ihn oder sie gedacht. Man hat an Weihnachten gedacht. Und ist dann systematisch sein Adressbuch im Handy durchgegangen, hat sich daran erinnert, dass er/sie einem im vergangenen Jahr auch eine Karte geschickt hat, auf dem er/sie einem ein besinnliches Weihnachtsfest wünschte. Und dass sie doch Plätzchen vor die Tür gelegt hat, oder war es schon vorletztes Jahr? Was weiß ich.

Jedenfalls wünsche ich den Menschen, denen ich an sich nicht gern was wünsche, gern ein besinnliches Fest. Es ist, als könnte ich damit zwischen die großen Buchstaben (so ist die Karte schneller beschrieben) ein Geheimnis, etwas Traumhaftes hineinbringen. Ich kenne niemanden, der sie kennt, diese Besinnlichkeit, die wir einander so eifrig wünschen. Wo ist sie, wonach riecht sie, und hat sie jemals gesprochen? Man sagt, sie sei ein schweigsames Wesen, aber auch darüber spricht man nicht viel. Besinnlich: Meine Nachbarin ist gestresst, weil sie es dieses Jahr wohl nicht schaffen wird, alle Plätzchensorten zu backen, meine kranke Freundin findet, sie muss schnell gesund werden, weil doch so viel zu tun ist, weil bald Weihnachten ist. In der Stadt werde ich noch mehr angerempelt als sonst, dieses Fremdkörpergefühl, im Kalten, man fragt mich, ob ich im Weihnachtsstress überhaupt noch zu diesem oder jenem komme, und an der Schule meines Sohnes fand das Adventsfest vorsichtshalber bereits im November statt – um dem Stress zu entfliehen; der Besinnlichkeit entgegen.

Das ist nicht diese alte Leier, von der jeder kitschige Weihnachtsfilm handelt: dass man den Sinn von Weihnachten vergisst. Am Ende all dieser Geschichten hat immer jemand etwas Gutes getan, der Weihnachtsbaum leuchtet. Das ist dann schön, ich muss dann auch weinen, aber mit Besinnlichkeit hat das immer noch nichts zu tun. Sondern mit dieser bitteren Alltagserkenntnis: dass man zu oft vergisst, das Gute zu tun im Leben. Auch das ist – und es sollte vor allem – kein saisonales Besinnen sein.

Vielleicht kommt „besinnlich“ auch von „sinnlich“: Köstliche, leicht angebrannte Gans, dieses Schlachtfeld danach in der Küche, die Ästhetik der Geschenkanhänger, die farblich zum Geschenkpapier passen. Die Ästhetik einer goldenen Spitze auf einem immer leicht schiefen Baum. Ich brauche, auch das ist vielleicht das Nicht-Deutsche an mir, immer ein paar Tage länger, bis mich dieser Weihnachtsstress, oder formulieren wir es mal wertfrei, Weihnachtstrubel ereilt. Deshalb schaffe ich es nie, Plätzchen zu backen (ich kriege aber wahnsinnig gerne welche geschenkt und esse sie noch viel lieber). Ich nutze diese Zeit meist zum besinnlichen, leicht zynischen Beobachten der Menschen: Man rennt in die Stadt, um dann mit Tüten heimzukehren, leicht angeschwipst, des Glühweins wegen. Am Tag nach Weihnachten sind die Papiermülltonnen schnell voll.

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin über interkulturelle Begebenheiten für den Freitag

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