Fremdes Land

Die Kosmopolitin Unsere Kolumnistin reist nach Russland. Doch was früher ihre Heimat war, könnte heute zu einem anderen Land geworden sein
Ausgabe 18/2017
„Datscha?“, fragt meine Mutter am Telefon und lacht
„Datscha?“, fragt meine Mutter am Telefon und lacht

Foto: imago/Itar-Tass

Ich reise nach Russland. Das tun Kosmopoliten so, reisen. Ich reise nach Russland, das ist dieses Land, in dem der böse und der große Putin regiert, Ehefrauen und Homosexuelle zusammengeschlagen werden dürfen – die einen aus Liebe, die anderen zwecks Erziehung – und in dem Wodka getrunken wird. So liest man Russland hierzulande, das sage ich jetzt mal so undifferenziert, obwohl es Ausnahmen gibt, selbstverständlich, und so sieht man dann auch Russland, so undifferenziert.

Das alles ist natürlich die Wahrheit: das mit Putin, dem Großen, dem Bösen, und das mit den Ehefrauen, das mit den Homosexuellen und das mit dem Wodka auch. Ich reise nach Russland, aber das Russland, in das ich reise, ist ein anderes Land.

Ich reise nach Russland, das ist das Land mit der Seele. Die Seele ist, wenn Herzen sich öffnen, und wenn der Kitsch dieses Satzes den Kitsch verliert. Ich reise in das Land, das einmal Heimat war, einmal, da war ich noch ein Kind. Seitdem ist es ein Land, und Heimat klingt anders auf Deutsch. Da, wo die russische Seele ist, da ist Kitsch keine Kategorie.

Da ist dieses Lagerfeuer im Garten einer Datscha. Die Schaschlikspieße sind lang wie Schwerter, die Gurken und die Radieschen, die Tomaten, der obligatorische Dill wurden soeben ihren Beeten im Garten entrissen und mit Smetana zu einem Salat vermischt. Die Sterne strahlen, auch sie haben noch nie von Kitsch gehört. Mein bärtiger Cousin nimmt seine Gitarre in die Hände, aber eigentlich ist es nicht von Bedeutung, wer die Saiten zupft. Alle singen mit, und wer den Text oder die Sprache nicht kann, der summt. Alle Liedtexte handeln von Abschied und Liebe und der Melancholie, die dazwischen liegt. Alle summen, dieses eine Gefühl. Deshalb fahre ich nach Russland.

„Datscha?“, fragt meine Mutter am Telefon und sie lacht, und sie lacht so, wie man über Kinder lacht, die Naivitäten als Wahrheiten präsentieren. „Es ist matschig und dreckig und der Schnee taut, und ohne Gummistiefel kommst du nicht von der Eisenbahn zum Haus.“ Und dann lacht sie noch einmal. „Du hast was nicht verstanden, niemand singt mehr.“ So nimmt sie mir das letzte Stückchen Heimat weg.

Ich reise nach Sankt Petersburg und Moskau, das sind die Städte der Eremitage, der Tretjakow-Galerie und des Mariinski-Theaters, und in den Stationen der Metro, die wie Paläste aussehen, halten die Menschen sich an ihren Büchern fest, sie saugen Worte auf, wie ich es gelernt habe als Kind, und in diesen Momenten merken sie nichts von dem Leben, das möglicherweise an ihnen zerrt, und auch nichts von dem Land, in dem sie leben.

„Metro?“, sagt meine Cousine am Telefon, als ich davon beginne. „Kein Mensch fährt mehr Metro“, sagt sie, und die Stimme klingt verdammt nach der meiner Mutter, „also keiner, der es geschafft hat“, und was sie sagt, hört sich nach dem an, was ich in deutschen Medien lese: die Gewinner des Putin’schen Systems.

„Ballett?“, sagt meine Tante am Telefon. „Du gehst in die Oper“, sagt meine Tante, und ich glaube, sie sagt das nur deshalb, weil sie meine Tante ist, und alles besser weiß, wie sie schon immer alles besser gewusst hat. „Kein Mensch geht mehr ins Ballett, und im Mariinski-Theater sind die Karten viel zu teuer.“ Jeder Satz über Russland ist ein Nicht-Mehr-Satz, dabei habe ich das Land noch nicht mal betreten.

Ich reise nach Russland, man sagt: in meine Heimat, aber vielleicht ist Heimat ein fremdes Land.

Zur Person

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin für den Freitag. Zuletzt erschien von ihr der Roman Null bis unendlich (Rowohlt 2015)

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