Ich frühstücke Schakschuka, „Yemen Style“, in den Niederlanden, Den Haag. „Yemen Style“ sagen meine Freunde und ich, weil wir die diversen Zubereitungsarten dieses aus Eiern, Tomaten und Gewürzen bestehenden Frühstücks nach verschiedenen Regionen im Nahen Osten unterscheiden können. Wir haben in den unterschiedlichen Regionen dort gelebt, kennen uns von dort, sind zusammen gereist. Wir legen also mit Selbstverständlichkeit, aber dennoch nicht ohne Stolz Wert auf diese Unterscheidung. Um uns herum spielen und nörgeln unsere Kinder, die es damals, als wir den Nahen Osten bereist haben, noch nicht gab. Sie wachsen insgesamt mit sieben Sprachen auf, und beim Kartenspielen gestern haben wir ihnen beigebracht, „Yalla!“ zu sagen, wenn es mit dem Spiel losgehen soll, auch das tun wir mit Selbstverständlichkeit, aber nicht ohne Stolz. Dazwischen essen wir russischen Kartoffelsalat, wir essen ihn den dritten Tag in Folge, wir haben zwei riesige Schüsseln zubereitet, eine davon vegetarisch, für die im „Fridays for Future“-Style erzogenen Kinder, den Rest für uns.
Der Kartoffelsalat ist wichtig, für jedes in der Sowjetunion großgezogene Kind ist er ein Symbol für Aufregung, für Glück. Es gab ihn zu Festlichkeiten, Geburtstagen und an Neujahr, das wir statt Weihnachten und Chanukka feierten. In die sozialistischen Länder verirrte sich kein Gott. Meine Freundin, bei der wir in Den Haag unterkommen, wurde wie ich in der Sowjetunion geboren, kam als Kind in die Niederlande, zieht demnächst nach Ägypten, liebt wie ich den Kartoffelsalat. Allen, die nicht in der Sowjetunion geboren wurden, haben wir beigebracht, den Kartoffelsalat zu lieben. In der Mitte unserer nonchalanten Weltläufigkeit steht eine große Schüssel.
Von Den Haag aus fahren wir weiter nach Köln, wo ich bei einem alten Freund unterkomme, den ich zu selten sehe. Er ist Unternehmensberater, reist jede Woche in ein anderes Land. Sein Freund und er haben Raclette vorbereitet – vier Käsesorten, Bresaola und Entenbrust, hervorragender Wein – und den Tisch so perfekt gedeckt, dass ich nur hoffen kann, dass die Kinder sich beim Essen benehmen. Dazwischen, beinahe fehl am Platz, aber mit unbeirrbarem Selbstbewusstsein: eine Schüssel russischer Kartoffelsalat. Mein Freund wurde wie ich in der Sowjetunion geboren.
Von Köln aus fahren wir weiter zu meinen Eltern, der Zug bleibt im Nirgendwo stecken, muss ausgewechselt werden, wir sind müde und unausgeschlafen, ich will nur ins Bett. „Aber“, fragt mein Vater, „magst du nicht mal einen Teller Kartoffelsalat?“ Menschen, die migrieren, die fliehen, nehmen viele Erinnerungen mit und oft wenig Gepäck, sie nehmen Sehnsüchte mit, die Sehnsüchte werden in der Fremdheit schnell größer, sie wachsen proportional zu der Geschwindigkeit, mit der die Farben von zu Hause verschwimmen. Wenn alles verschwimmt, dann gewinnen einige wenige, konkrete Details an Bedeutung: eine bestimmte Blume, ein Gewürz, ein Musikinstrument. Dann kann ein einzelner Geruch plötzlich Heimat bedeuten. Ich bin als Kind emigriert und habe seitdem in vielen verschiedenen Ländern gelebt, ähnlich wie meine Freunde. Ich habe kluge Bücher über Migration aus psychologischer, soziologischer und politischer Sicht mit Textmarkern gelesen, und die Sätze, die ich jetzt schreibe, würde ich ins Russische weniger gewandt übersetzen. Ich sitze im Zug, in meinem Koffer eine Tupperware-Schüssel Kartoffelsalat.
Kommentare 9
der abgebildete k-salat ist kapern-/kalorien-reich,
kosmo-politisch/globalistisch, kapitalistisch-reich-haltig,
und erinnert in keiner weise an lokale armut! lecker!
Kartoffelsalat, wie profan ;) Das wird seiner aristokratischen Herkunft doch gar nicht gerecht! Deshalb hieß er in der Sowjetunion so schön französisch klingend Olivier Salat. Ich könnte mich da immer reinlegen.
sieht verlockend aus und schmeckt auch ohne fleisch-bällchen-einlage.
oda?
Mit Fleischbällchen kenne ich es nicht. Die Idee ist aber gar nicht schlecht. Mal sehen, wenn sich das nächste Mal genügend Freiwillige zum Gemüseschnippeln finden, dann kümmere ich mich um die Fleischbällchen.
>>...schmeckt auch ohne fleisch-bällchen-einlage.<<
Sicher. Zum Beispiel mit Schinkenwürfeln wie im obigen Bild ;-)
..."und zucker-erbsen nicht minder" (harry heine)
total anders als das meiner herkunft entsprechende
-->"schlesische himmel-reich", wohl aber genauso volks-tümlich ersehnt...
Wenn nichts mehr verbindet, der Kartoffelsalat tut es anscheinend wirklich noch.
Das mit dem schlesischen Himmelreich muss ich mir mal merken, wir machen Weihnachten immer den böhmischen Kartoffelsalat, ausnahmsweise mit Salami.
Bei allem Verbindenden gibt es da aber noch den Mayonnaise-Äquator, ab der Mitte und zum Süden von D zunhemend, isst man den Kartoffelsalat tendenziell mit Essig & Öl, was auch sehr lecker sein kann und der familiäre Alltagskartoffelsalat ist.
Bester Artikel derzeit – absolut lecker!
Also bei aller Liebe und Kreativität, aber das Rezept ist total falsch. Man schneidet das Gemüse doch nicht vor dem Kochen! Die Kartoffeln und Karotten kommen ungeschält in den Kochtopf und werden erst danach geputzt und gewürfelt. Sonst bekommt man doch keinen richtigen sowjetischen Olivier-Salat. Tsss, Tsss, Tsss :)