In unserer Mitte: russischer Kartoffelsalat

Die Kosmopolitin Niederlande, Deutschland, Russland: eine Speise vereint, wie keine zweite
Ausgabe 02/2020
Der Kartoffelsalat ist wichtig, für jedes in der Sowjetunion großgezogene Kind ist er ein Symbol für Aufregung, für Glück
Der Kartoffelsalat ist wichtig, für jedes in der Sowjetunion großgezogene Kind ist er ein Symbol für Aufregung, für Glück

Foto: Imago Images/ZUMA Press

Ich frühstücke Schakschuka, „Yemen Style“, in den Niederlanden, Den Haag. „Yemen Style“ sagen meine Freunde und ich, weil wir die diversen Zubereitungsarten dieses aus Eiern, Tomaten und Gewürzen bestehenden Frühstücks nach verschiedenen Regionen im Nahen Osten unterscheiden können. Wir haben in den unterschiedlichen Regionen dort gelebt, kennen uns von dort, sind zusammen gereist. Wir legen also mit Selbstverständlichkeit, aber dennoch nicht ohne Stolz Wert auf diese Unterscheidung. Um uns herum spielen und nörgeln unsere Kinder, die es damals, als wir den Nahen Osten bereist haben, noch nicht gab. Sie wachsen insgesamt mit sieben Sprachen auf, und beim Kartenspielen gestern haben wir ihnen beigebracht, „Yalla!“ zu sagen, wenn es mit dem Spiel losgehen soll, auch das tun wir mit Selbstverständlichkeit, aber nicht ohne Stolz. Dazwischen essen wir russischen Kartoffelsalat, wir essen ihn den dritten Tag in Folge, wir haben zwei riesige Schüsseln zubereitet, eine davon vegetarisch, für die im „Fridays for Future“-Style erzogenen Kinder, den Rest für uns.

Der Kartoffelsalat ist wichtig, für jedes in der Sowjetunion großgezogene Kind ist er ein Symbol für Aufregung, für Glück. Es gab ihn zu Festlichkeiten, Geburtstagen und an Neujahr, das wir statt Weihnachten und Chanukka feierten. In die sozialistischen Länder verirrte sich kein Gott. Meine Freundin, bei der wir in Den Haag unterkommen, wurde wie ich in der Sowjetunion geboren, kam als Kind in die Niederlande, zieht demnächst nach Ägypten, liebt wie ich den Kartoffelsalat. Allen, die nicht in der Sowjetunion geboren wurden, haben wir beigebracht, den Kartoffelsalat zu lieben. In der Mitte unserer nonchalanten Weltläufigkeit steht eine große Schüssel.

Von Den Haag aus fahren wir weiter nach Köln, wo ich bei einem alten Freund unterkomme, den ich zu selten sehe. Er ist Unternehmensberater, reist jede Woche in ein anderes Land. Sein Freund und er haben Raclette vorbereitet – vier Käsesorten, Bresaola und Entenbrust, hervorragender Wein – und den Tisch so perfekt gedeckt, dass ich nur hoffen kann, dass die Kinder sich beim Essen benehmen. Dazwischen, beinahe fehl am Platz, aber mit unbeirrbarem Selbstbewusstsein: eine Schüssel russischer Kartoffelsalat. Mein Freund wurde wie ich in der Sowjetunion geboren.

Von Köln aus fahren wir weiter zu meinen Eltern, der Zug bleibt im Nirgendwo stecken, muss ausgewechselt werden, wir sind müde und unausgeschlafen, ich will nur ins Bett. „Aber“, fragt mein Vater, „magst du nicht mal einen Teller Kartoffelsalat?“ Menschen, die migrieren, die fliehen, nehmen viele Erinnerungen mit und oft wenig Gepäck, sie nehmen Sehnsüchte mit, die Sehnsüchte werden in der Fremdheit schnell größer, sie wachsen proportional zu der Geschwindigkeit, mit der die Farben von zu Hause verschwimmen. Wenn alles verschwimmt, dann gewinnen einige wenige, konkrete Details an Bedeutung: eine bestimmte Blume, ein Gewürz, ein Musikinstrument. Dann kann ein einzelner Geruch plötzlich Heimat bedeuten. Ich bin als Kind emigriert und habe seitdem in vielen verschiedenen Ländern gelebt, ähnlich wie meine Freunde. Ich habe kluge Bücher über Migration aus psychologischer, soziologischer und politischer Sicht mit Textmarkern gelesen, und die Sätze, die ich jetzt schreibe, würde ich ins Russische weniger gewandt übersetzen. Ich sitze im Zug, in meinem Koffer eine Tupperware-Schüssel Kartoffelsalat.

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin über interkulturelle Begebenheiten für den Freitag

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