Brandenburg, irgendwo. Dieser Osten Deutschlands, von dem man, wenn man in Bayern lebt wie ich, gerne denkt, dass er ein Teil Deutschlands sei, und immer wieder liest, dass die Teilung noch nicht überwunden wäre. Beinahe ein brandenburgisches Nichts: ein Dorf, ein paar Häuser, ein Spielplatz, auf dem niemand spielt, dahinter beginnt ein Wald, im Wald ein Moor.
Es könnte das Ende der Welt sein oder eine Filmkulisse. Der Film wäre vielleicht ein Drama, Alkohol, kaputte Familien, jemand würde schreien, jemand würfe eine Bierflasche an die Wand. Die einstöckigen Häuser sind grau, dieses Grau, das Osten sagt, egal, wie sehr man ihn nicht mehr glauben möchte, den Osten; wir kommen aus der Bundesrepublik hierher. Auf den Fenstersimsen Blumenbeete, bunt bepflanzt, aber was in Bayern unter Sonnenschein nach Spießigkeit aussieht, wirkt hier vor dem Hintergrund der ehemals weißen Tüllvorhänge wie stehen gebliebene Zeit. In den Vorgärten sitzen Gartenzwerge und Enten aus Porzellan, und eine Frau sitzt auch da, weißer Plastikgartenstuhl und ein Blick, der die Fremdlinge, also uns, die wir an ihrem Garten vorbeispazieren, wegwünscht.
„Schwarz möchte man hier nicht sein“, sage ich zu meiner Freundin, „oder aufwachsen und feststellen, dass man homosexuell ist zum Beispiel.“ Aus einer der Türen tritt ein Mann heraus, er ist das, was man fettleibig nennt, und er ist das, was viele für ein Klischee halten würden: schwarze Jogginghose mit weißen Streifen an der Seite, ein Feinrippunterhemd, ebenfalls weiß, und im Gesicht eine Brille und ein Ausdruck, der nichts Gutes sagt. Er murmelt vor sich hin, das Murmeln wird lauter, und er bleibt stehen und beobachtet uns, wie wir die Straße entlanglaufen, und sein Murmeln und seine Haltung sagen, dass es nicht gut ist, dass wir da sind, zwei fremde Frauen in seinem Zuhause. Meine Freundin stellt fest, um jedes womöglich aufkeimende Vorurteil zu widerlegen: „In Garching bei München steht vielleicht auch genauso einer vor seinem Haus, der auch Angst hat, wenn Fremde durch sein Dorf laufen.“ Es stimmt, und es stimmt nicht.
Wir laufen weiter, in Richtung Wald, schnelleren Schrittes nun, um sein Blickfeld zu verlassen, also hat dieser Blick die Macht, uns zu vertreiben, denke ich, und dass er anders ist. Die Kleidung ist anders, die Brille, eben auch die Angst. Der eine hält fest an dem, was er hat, an den Blumenbeeten, an Wohlstand, an der Zufriedenheit seines Lebens, am Jetzt. Die Dinge sind gut, wie sie sind, das ist ein Grund, dass sie für immer so bleiben sollen. Der andere hingegen ist wütend: weil alles schon immer so war, weil alles nicht immer einfach war, weil man irgendwie Verlierer waroder sich so gefühlt hat.
Auch deshalb sollen die Dinge so bleiben. Der Wald ist wild, Farn und lilafarbene Blumen, niemand außer uns und hohen Tannen, ein See, der vielleicht ein Moor ist. „Der Wald bei uns ist anders“, sagt meine Freundin, sie meint München und Bayern damit.
Auf dem Rückweg schiebt ein anderer Mann eine Karre hinter uns die Straße zu seinem Haus, er hört uns sprechen und hilft kurz unaufgefordert weiter („der See ist ein Kilometer in diese Richtung“), und ich denke, in schlechter Anlehnung an Tolstoi, der sagte, dass alle glücklichen Familien einander ähnelten, während die unglücklichen sich in ihrem Unglück unterschieden, dass die Freundlichkeit überall dieselbe ist. Eine freudige Überraschung.
Kommentare 6
ich denke,
derartige freundlichkeit wird von kosmopolitisch-reisenden
fehl-interpretiert: hinter der scheinbaren hilfsbereitschaft
leuchtet stolze lokal-kompetenz!
ist aber schon klar, dass alles über den feinrippmann projeziertes vorurteil ist, oder? meine tipp fürs nächste mal: umso kleiner das dorf, desto aussichtsreicher wird ein freundliches hallo. trotzdem danke für die introspektive und den ausgestopften wilden.
Ich habe mir letztens mal Görlitz angeguckt. Anlass war ein Feuilletonartikel im Spiegel über einen Roman, der speziell Görlitz als Ausbund alles Elends hinstellt bzw. richtig triste, vom Westen abgemeierte Ossi-Hölle. (Der Rezensent hat sich dieser Tränentirade weitgehend angeschlossen und besagten Ossi-Edeljammerporno über den grünen Klee gelobt.)
Um ehrlich zu sein: Ich habe mir G. via Google Maps mal angeschaut. (So lange die braune Nazi-Pest und ihre fast genauso schlimmen CDU-Unterstützer dort hausen, kriegen mich »in RL« da keine zehn Pferde hin.) Was sehen wir? Ein fucking Urlaubsparadies :-(. Häuser herausgebrezelt, dass man sich fast wie im Tessin fühlt; Landschaft satt, fast wie in der Toskana.
Hat nur einen kleinen Nachteil: Der Landeschef und seine Schreibkräfte säuseln zwar immer »TOURISMUS !!«. Leider jedoch birgt dieser Tourismus geballte Risiken für Leib und Leben – etwa das, bei der Heimkehr aus einem dieser schönen Cafés oder Biergärten nachhaltige Begegnungen mit Vertretern des dort lebenden Volksstamms zu haben, die einem unmißverständlich klarmachen, dass man am besten das Weite sucht (im günstigen Fall).
Nun ist hierzulande jeder so frei, dass er sagen darf, »sein« Gebiet sei »Touristengebiet«, obwohl fremd/anders Aussehende dort tagtäglich verdroschen oder im Extremfall sogar abgemessert werden. Die Freiheit schließt selbstverständlich auch ein, mit streifenbewehrten schwarzen Jogginghosen plus Feinripp-Ärmelloses und Kampftöle durch die Gegend zu laufen (anstatt sich ein Hemd zuzulegen, als Bedienung im Café anzuheuern und so einen Beitrag zum Blühen des Touristenparadieses zu leisten). Allerdings habe ich wenig Verständnis dafür, dass dieser Touristenlegende nicht offensiver widersprochen wird.
Meiner Meinung nach wäre eine Reisewarnung seitens des Bundesinnenministeriums angemessen – jedenfalls so lange, wie diese außer Rand und Band geratenen Nazi-Aufmärsche andauern. (Ob Sachsen jemals wirklich Urlaubsparadies wird, soll an der Stelle nicht weiter interessieren.)
"Die Freiheit schließt selbstverständlich auch ein, mit streifenbewehrten schwarzen Jogginghosen plus Feinripp-Ärmelloses und Kampftöle durch die Gegend zu laufen (anstatt sich ein Hemd zuzulegen, als Bedienung im Café anzuheuern und so einen Beitrag zum Blühen des Touristenparadieses zu leisten)"
und danke für den hund. der macht das wimmelbild komplett. drehbuchmäßig förderfähig wäre das ganze, wenn der hund bei der stasi gewesen wäre und der dicke mann ein ex-ddr-grenzer, der mit dem geld erschossener fluchthelfer die ganzen häuser rausgebrezelt hat, die er sich im unrechtsregime unter den nagel gerissen hat.
... und der jetzt potentielle West-Touris abschreckt, weil die ja nur die Preise im Café und Biergarten verderben...
kosmopolitische west-touris, so viel zeit muß sein.