Mehr als ein Facebookstatement

Die Kosmopolitin Ihr wollt etwas Gutes tun? Zieht nach Chemnitz, Leute
Ausgabe 37/2018
„Zieh her“, sagen zwei Chemnitzer Kulturschaffende, „120 Quadratmeter schönster Altbau für 500 Euro im Monat“
„Zieh her“, sagen zwei Chemnitzer Kulturschaffende, „120 Quadratmeter schönster Altbau für 500 Euro im Monat“

Foto: Hartenfelder/Imago

Der Tag, an dem ich lese, dass unser Bundesinnenminister findet, dass Migration „die Mutter aller Probleme“ ist und ich wirklich versuche, das nicht persönlich zu nehmen, als Mutter und Migrantin, ist auch der Tag, an dem ich zum ersten Mal dieses Plakat sehe, auf dem die Bayern-AfD „islamfreie Schulen“ fordert. Darauf streckt ein blondes Mädchen die Faust in die Höhe, es könnte eine Siegesgeste sein, ein Ausdruck der Freude über die religionsfreie Schule oder der Hitlergruß. An Tagen wie diesen sollte ich keine Nachrichten mehr lesen – und tue dann nichts anderes als das. An so einem Tag entscheide ich mich, nach Chemnitz zu fahren. Ich könnte auch nach Venedig, das ist von München in etwa genauso weit weg. Ich weiß nicht, warum ich dann nach Chemnitz fahre, vielleicht weil ich „es“ selbst sehen will, was auch immer dieses „es“ ist, den braunen Mob, das Gegengefühl, dass unser „es“ mehr ist als ein Facebookstatement.

In Chemnitz fühle ich mich alt, das erste Mal eigentlich, das hat nichts mit Chemnitz zu tun (das überaltert ist, wie ich später lerne), sondern mit den Besuchern des #wirsindmehr-Konzerts. Die meisten sehen aus, als müssten sie morgen zur Schule oder als hätten sie es nicht geschafft, das Geschirr in der WG-Küche abzuspülen, vielleicht gibt es morgen Ärger deswegen. In den hinteren Reihen Kinder auf Elternschultern, ein paar davon mit Lärmschutzkopfhörern. Viele fcknzs-T-Shirts, Kraftklub-Fans, viel Gehüpfe, in die Luft gestreckte Arme, Festivalstimmung. Irgendwann singe ich „Ich komm aus Karl-Marx-Stadt“, dabei habe ich von Kraftklub erst vor zwei Tagen gehört. Irgendwann brüllen alle „Nazis raus“, da brülle ich mit, und die Stimme wird lauter, weil es sich für einen Moment so gut anfühlt, nicht alleine zu fühlen, zu denken, zu sprechen (in dem Fall: zu brüllen). Und dann denke ich: Spaltung. Ich will aufhören zu denken, zu analysieren, und der letzte Gedanke, bevor ich also noch einmal hüpfe, ist der, dass „sie“ das vielleicht auch wollen: Aufhören zu denken. Fuck.

Später stürzt das Handynetz zusammen, so kann ich nicht nachschauen, wie viele Teilnehmer es waren, es wird schon 23 Uhr sein, als ich von den 65.000 höre. Ein freundlicher Polizist (aus Stuttgart) sieht sich sehr geduldig mit mir eine Karte an, um herauszufinden, wie ich um die Sperren herum-, wie ich zu einem verabredeten Gespräch komme. Bei dem Gespräch lerne ich zwei Kulturschaffende aus Chemnitz kennen, die erzählen, wie es ist, wenn man in Chemnitz lebt, wenn die Kameras nicht da sind und auch kein Pop-Konzert gegen Rassismus, und dass sie überlegt haben, einen Stacheldrahtzaun um Chemnitz zu errichten, damit all die Konzertbesucher gezwungen sind, in Chemnitz zu bleiben, damit „wir tatsächlich mehr werden“. „Zieh her“, sagen sie zu mir, „120 Quadratmeter schönster Altbau für 500 Euro im Monat“ (das erzählen sie einer, die aus München kommt), und dann sagt einer von ihnen, dass er ja hierbleibe und morgen zum Zahnarzt gehe, der AfD wählt, und der Eisverkäufer, bei dem er seinen Kindern das Eis kauft, auch. „Mit denen muss ich morgen reden“, sagt er, „und was machst du so?“ Ich setze mich am nächsten Tag ins Auto und fahre zurück nach München, wo ich in meiner (Filter-)Blase unangemessen häufig dafür beklatscht werde, dass ich nach Chemnitz gefahren bin, dass „ich mich getraut habe“ – Ergänzung: in eine deutsche Stadt zu fahren, nicht in ein Kriegsgebiet zu reisen – und dann lese ich wieder Nachrichten.

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin über interkulturelle Begebenheiten für den Freitag

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