Wo Europa auf Europa trifft

Die Kosmopolitin Die finnisch-russische Grenzregion hat ihre eigenen Gesetze und Mysterien. Von Nescafés mit goldenen Deckeln, Sehnsucht nach Birken und eigenwilligen Kontrollmechanismen
Ausgabe 12/2018
Gönnt Euch reichlich. Aber der goldene Deckel bleibt tabu
Gönnt Euch reichlich. Aber der goldene Deckel bleibt tabu

Foto: Yuri Kadobnov/AFP/Getty Images

Da, wo die Schlittenhunde zu Hause sind und die Elche, in Lappland, da trifft Europa auf sich selbst. Oder einfach nur auf den anderen Teil Europas. Die Temperaturen unter minus fünfzehn Grad, Bäume, die nicht mehr wissen, wie es ist, wenn kein Schnee auf ihren Ästen thront. Jede Helligkeit geht beinahe sofort wieder in Dunkelheit über, aber der Tag damit nicht in die Nacht: Es ist erst Mittag, wenn die Sonne untergeht.

Eine Straße führt in den Norden nach Norwegen, und eine in den Osten nach Russland. Sonst ist da nichts, Stille und Einsamkeit, und je nach Haltung Ruhe oder Depression. Der Grenzpunkt, an dem man von Finnland nach Russland gelangt und andersherum, heißt RajaJooseppi. Und auch auf der anderen, der russischen Seite, ist nichts. Dem finnischen Grenzbeamten zeige ich den Pass mit dem benötigten Visum für Russland darin. Das Visum stimmt, aber die Grenze darf ich dennoch nicht passieren, weil das Auto ein in Finnland gemietetes ist. Zu Fuß?, frage ich, aber er schüttelt den Kopf. Das finnisch-russische Grenzabkommen besagt, dass man die Grenze nur mit einem Kraftfahrzeug überqueren darf. Der finnische Grenzbeamte rät mir, nach Russland zu trampen.

Es dauert nicht lange, bis ein Auto hält. „Ich möchte nach Russland“, erkläre ich dem Fahrer, der sofort anbietet, mich nach Murmansk mitzunehmen, und viele Erklärungen später immer noch nicht verstanden hat, dass ich einfach nur bis zum nächsten Dorf mitfahren möchte. „Aber was willst du da machen?“, ist eine sehr berechtigte Frage, und ich weiß keine Antwort darauf. Weil ich in einer Welt aufgewachsen bin, in der es gefühlt keine Verbindung gab zwischen diesen beiden Welten, West und Ost, und in der ich – ebenfalls gefühlt – auf der falschen, der osteuropäischen Seite war. Und weil ich jetzt auf der anderen Seite lebe und diese blöde, nostalgische Sehnsucht nicht los werde, die russischen Birken zu sehen, obwohl hier, so weit nördlich, fast nur Tannen wachsen. Der Fahrer zuckt mit den Schultern und öffnet die Schiebetür seines Siebensitzers für mich, in dem drei Russinnen sitzen, wie sie das Klischee beschreibt: Pelz, als Mantel oder mindestens als Kapuzenbesatz; runde, gegerbte Gesichter, in denen nichts als Müdigkeit ist.

Meine Mitfahrerinnen, erfahre ich, haben in Ivalo eingekauft. Was sie dort eingekauft haben, in Ivalo, will ich wissen, weil ich in Ivalo war: ein Hotel, ein Supermarkt, eine Apotheke, vielleicht dreißig Häuser. Die russischen Frauen jedenfalls, sie haben Nescafé eingekauft. Nescafé Gold. Das ist der mit den goldenen Deckeln, erklären sie mir, und den mit den goldenen Deckeln gibt es in Russland nicht, der Sanktionen wegen. Aber die Frage, warum Nescafé dann den normalen dort verkaufen darf, auf die haben sie keine Antwort.

Andrej hält in diesem einen Dorf an: vier Häuser aus Holz im schneeweißen Nichts, die Farbe schon abgeblättert, an einem hängt die sowjetische Flagge. „Ist hier ja auch wie in der Sowjetunion“, sagt eine der Frauen und klingt dabei wie eine Dame von Welt. Zehn Minuten, die wir da in der Kälte, in der Sowjetunion, in Russland stehen, in diesem Dorf, dann fährt mich Andrej zurück an eine russische Tankstelle nahe der Grenze. An diesem sonderbaren Punkt, wo Europa auf Europa trifft, wo ich wieder warte, bis einer mich mitnimmt. „Bald kommt bestimmt jemand“, sagt die Kassiererin, „die Finnen, die tanken immer bei uns“. „Die haben ein Visum nur zum Tanken?“, will ich wissen. „Was weiß ich. Sie tanken.“

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin für den Freitag. Zuletzt erschien von ihr der Roman Mehr Schwarz als Lila

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