Sagt Ihnen der Begriff „Neue Arbeit“ etwas? „Nein, das sagt mir nichts.“ Wenn es Ihnen auch so geht, dann geht es Ihnen wie Jessica Hansen. Sie ist Malermeisterin und führt seit zehn Jahren ihren eigenen Malereibetrieb mit rund 30 Mitarbeitenden. Jessica Hansen macht New Work, weiß es aber nicht. Denn die Debatte um die Zukunft der Arbeit, um sogenannte Neue Arbeit, findet vor allem in den Co-Creation Labs der Wissensarbeiter*innen und Unternehmensberatungen statt. Dort, wo Innovation gefordert wird und Digitalisierung Teams zu mehr Agilität drängt, was so viel heißt wie: flexible Anpassungsfähigkeit an äußere Umstände. Wo Homeoffice die beste Antwort auf die Corona-Pandemie war. Wo Chef*innen Workshops zum Erlernen von F
New Work: Eine Malermeisterin weiß über modernes Arbeiten mehr als jedes LinkedIn-Posting
Arbeit Fachkräftemangel, Arbeitszeitverdichtung, Kinder-Frage: Eine Handwerkerin aus Norddeutschland hat ihren Betrieb radikal umgestellt – jetzt kann sie offene Stellen besetzen

Die Arbeitnehmer:innen haben nichts zu verlieren als ihre Ketten
Illustration: der Freitag
n Führung auf Distanz belegen. Und davon ein Selfie bei LinkedIn posten, mit dem Hashtag #newwork.Krankenpfleger, Lehrer, Reinigungskräfte, Werksarbeiterinnen, Busfahrer, Ärztinnen, Verkäufer, Kindergärtner und Handwerkerinnen wie Jessica Hansen können kein Homeoffice machen. Der Wandel der Arbeitswelt drängt sich in diesen Branchen nicht aus der bequemen Co-Workin-Lounge, beim Schlürfen eines Flat White mit Hafermilch, ins Gespräch. Der Wandel zeigt sich dadurch, dass sich die Arbeit türmt, aber niemand da ist, um sie zu erledigen. Deshalb posten auch so wenige Menschen dieser Branchen Selfies bei LinkedIn. Sie haben zu tun. Das ist die Zukunft der Arbeit. Und sie ist politisch.Auf sechs Monate Wartezeit musste Jessica Hansen ihre Kunden in Schleswig-Holstein noch vor einem guten Jahr vertrösten. Einigen war das zu lang, sie sprangen ab. Es sprach sich herum, dass die Malerin nicht abliefern kann. Nicht, weil sie nicht wollte, sondern weil zu wenig Bewerbungen auf offene Stellen reinkamen. Der Auftragslage nach hätte der Betrieb wachsen müssen, aber das ging einfach nicht, weil der Nachwuchs fehlte. Jessica Hansen überlegte. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass in Dänemark bereits seit langem eine Vier-Tage-Woche im Handwerk üblich ist. Die Kolleg*innen fuhren von Montag bis Donnerstag zum Arbeiten nach Dänemark hoch und hatten Freitag bis Sonntag frei. Warum sollte das nicht auch in ihrem Betrieb funktionieren? Im Dezember 2021 fragte sie die Belegschaft, wer ab 2022 die 40 Stunden statt in fünf in vier Tagen abarbeiten wolle. Das Arbeitszeitgesetz schreibt einen Acht-Stunden-Tag vor. Er kann aber auf zehn Stunden verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden. Ingo Schwanke meldete sich. Der 49-Jährige ist Malergeselle und seit zehn Jahren im Betrieb. Die Aussicht auf mehr Freizeit machte ihm die Entscheidung leicht.Mittwoch ist Kita-TagZehn Jahre lang hatte Ingo Schwanke 40 Stunden an fünf Tagen gearbeitet. Die Umstellung auf vier Tage fiel ihm nach kurzer Umgewöhnung leicht. Im Betrieb stellten sie nicht nur für die Mitarbeitenden etwas um, sondern auch für die Kund*innen: Statt einen Auftrag pauschal nach Leistung zu berechnen, wird nur nach geleisteten Stunden bezahlt. Bei den Kunden führt diese Transparenz zu Vertrauen und Sicherheit. Für die Handwerker*innen bedeutet es, eine Baustelle verlassen zu können, wenn die Arbeit getan ist.Die Arbeitsplanung kann dadurch flexibler werden. Das ist infolge der Einführung der Vier-Tage-Woche auch nötig. Denn anders als oft angenommen gibt es trotz der vier Tage keine verkürzten Öffnungszeiten. Die Maler und Malerinnen organisieren sich versetzt in Schichten und nach Bedarfen. Eine Woche im Voraus gibt jede und jeder an, wie er oder sie arbeiten möchte. Ein Kollege hält sich zum Beispiel immer den Mittwoch frei, weil er an diesem Tag den Sohn aus der Kita abholt. Ingo Schwanke arbeitet meistens von Montag bis Donnerstag. Wenn er auf einer Baustelle fertig ist, trägt er die geleisteten Stunden in ein Tablet ein, das er mit auf die Baustelle nimmt. Im Büro wissen sie dann, ob er noch verfügbar ist, und können die Stunden mit dem Auftraggeber genau abrechnen. Wenn Ingo Schwanke seine Stunden nicht voll hat, bietet er Kolleg*innen auf anderen Baustellen seine Unterstützung an. Dafür muss er nicht die Chefin fragen. Die Malerinnen und Maler organisieren sich zum überwiegenden Teil selbst. Die Vier-Tage-Woche kommt im Betrieb von Jessica Hansen nicht allein. Sie bezahlt nicht nur einen Euro über Tarif, sondern auch die Fahrtzeiten der Mitarbeitenden. Das ist im Handwerk nicht unbedingt üblich. In der Regel beginnt die Arbeitszeit eines Mitarbeitenden, sobald er auf der Baustelle eintrifft, so kommen bei Handwerkerinnen und Handwerkern gern mal zehn Stunden Arbeitszeit zusammen, von denen aber nur acht bezahlt werden. Im Betrieb von Frau Hansen werden die Fahrtzeiten gesondert eingetragen. Die Mitarbeitenden können sie sich auszahlen lassen oder in Urlaubstage umwandeln.Nach einem Jahr Vier-Tage-Woche arbeiten nur noch zwei Kolleg*innen im Betrieb fünf Tage. Die Zahl der Bewerbungen ist stark gestiegen. Aktuell hat die Malerin eine Warteliste von 30 Bewerber*innen. Die Vorlaufzeit für Kunden hat sich auf rund drei Wochen verkürzt. Die Flexibilität der Arbeitszeit hat auch eine Flexibilität in der Zusammenarbeit bewirkt. Die Kolleg*innen sprechen sich selbstständig ab, helfen untereinander aus und legen ihre Arbeitstage so, dass es im Schnitt für alle passt. Dadurch hat die Partizipation im Unternehmen stark zugenommen. Mitarbeitende bringen Ideen ein und fühlen sich mit ihren Bedürfnissen ernst genommen. Gerade Menschen mit Familien oder Sorgeverantwortung für pflegebedürftige Angehörige profitieren von dem Modell. Als Mutter von drei Kindern weiß Jessica Hansen das aus eigener Erfahrung. Weil oft beide Elternteile arbeiten müssen, ist es hilfreich, wenn wenigstens eine*r der beiden Arbeitgeber*innen Flexibilität ermöglicht. Die Vier-Tage-Woche ist nicht nur von Vorteil für junge Menschen, denen gern nachgesagt wird, dass sie keine Lust auf Arbeit hätten. Sie ist von großem Vorteil für alle. Die Chefin des Handwerksbetriebs freut sich besonders darüber, dass sie wegen der Vier-Tage-Woche Malerinnen, die Mütter sind, Arbeit in Vollzeit ermöglichen kann. Häufig müssen Handwerkerinnen, die Kinder bekommen, aufgrund der Arbeitszeiten in den Betrieben ihren erlernten Beruf aufgeben. Bei Jessica Hansen sind zwei Frauen als Auszubildende im Betrieb, eine weitere ist Malergesellin. Und auch auf der Warteliste für Bewerber*innen stehen zwei Frauen, von denen sie eine hoffentlich bald anstellen kann.In der Diskussion um den Fachkräftemangel ist die Maßnahme, Frauen in Vollzeit zu beschäftigen, ein wichtiges Ziel. Rund 77 Prozent der Frauen in Deutschland arbeiteten 2021 laut Statistischem Bundesamt in Teilzeit. Von denen, die in Vollzeit arbeiten, erhalten 38 Prozent eine Rente unter 1.000 Euro netto. Das hat gerade eine Anfrage der Linken beim Bundesarbeitsministerium ergeben. Eine 42-Stunden-Woche, wie vom Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm, oder von Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel vorgeschlagen, verkennt nicht nur die Lebensrealität von Frauen. Sie löst auch nicht das Problem ihrer drohenden Altersarmut oder des Gender-Pay-Gap.Das Stigma der ArbeiterklasseWas es wirklich bräuchte? Eine funktionierende staatliche, kostenlose Kinderbetreuung. Doch laut Kitaverband fehlen auch hier bundesweit rund 100.000 Fachkräfte. Die Arbeitsbedingungen sind nicht attraktiv, die Personalschlüssel zu knapp. Während der Pandemie hat sich die Situation verschärft. Und wer arbeitet überwiegend in Erziehungsberufen? Es sind Frauen.Diese Zukunftsaussichten motivieren junge Menschen kaum dazu, Kinder zu bekommen und in Vollzeit zu arbeiten. Um Einfluss auf den Fachkräftemangel zu nehmen, sind Arbeitsbedingungen erforderlich, wie sie der Malereibetrieb von Jessica Hansen anbietet. Aber auch gleiche Bezahlung von Frauen und die Beendigung von Diskriminierung, gegenüber Frauen, aber auch gegenüber Fachkräften aus dem Ausland. Denn auch die braucht Deutschland dringend. Fragt man Jessica Hansen, ist auch die gesellschaftliche Abwertung von Ausbildungsberufen im Allgemeinen ein Problem. Selbst wer als Arbeiter*innenkind aufwächst, will selten zur Arbeiterklasse gehören. Nicht, weil die Berufe nicht spannend und hochgradig sinnvoll wären, sondern weil Arbeiter*innen gesellschaftlich stigmatisiert werden. Jemand, der Wände streicht, genießt weniger gesellschaftliches Ansehen als jemand, der Herzklappen zusammennäht.Arbeitnehmer*innen sind rar und sitzen damit am längeren Hebel. Sie können mit ihren Forderungen Unternehmen dazu bewegen, sich zu verändern. Betriebe wie der von Jessica Hansen warten nicht auf die Politik. Sie schaffen Tatsachen. Für die Mitarbeitenden und das Unternehmen hat es sich gelohnt. Malergeselle Ingo Schwanke fragt sich, warum nicht schon viel mehr Betriebe diesen Weg gehen. Er will seine Vier-Tage-Woche nicht mehr gegen fünf Tage eintauschen, weil sie ihm deutlich mehr Lebensqualität bringt. Chefin Jessica Hansen merkt die Veränderungen auch daran, dass es im gesamten vergangenen Jahr nur zwei Krankentage gab. Die einzige Frage, die sie sich stellt, ist, warum sie nicht schon viel früher damit angefangen hat.Was ist jetzt also Neue Arbeit? Neue Arbeit wird häufig beschrieben als der strukturelle Wandel der Arbeitswelt, angetrieben von zunehmender Digitalisierung und veränderten Bedürfnissen junger Arbeitnehmer. Aber das greift viel zu kurz. Der Wandel der Arbeitswelt wird durch eine alternde Gesellschaft, durch den daraus resultierenden Mangel an Personal, durch unbewegliche Unternehmen, durch strukturelle Diskriminierung, durch Migration, durch mangelnde Anerkennung von Sorgearbeit und durch die ungleiche Verteilung von Vermögen angetrieben. Während Politiker*innen und Unternehmensvertreter in Talkshows noch über Renteneintrittsalter, Diversity-Kampagnen und Wochenstunden diskutieren, arbeiten Ingo Schwanke und seine Kolleg*innen bereits an vier Tagen statt an fünf. Vielleicht wäre es sinnvoll, öfter mal mit denen zu sprechen, die Arbeit bereits verändern, weil die Umstände sie dazu drängen. Dort findet man gute Antworten auf die Frage, wie wir in Zukunft arbeiten und leben wollen.Placeholder authorbio-1