Ob bei Rammstein, Til Schweiger oder Julian Reichelt: Die patriarchale Macht wankt
Machtkultur Der Musiker Till Lindemann, der Regisseur Til Schweiger und der Journalist Julian Reichelt haben eines gemeinsam: Sie bringen viel Geld ein, konzentrieren deshalb auch viel Macht auf sich. Wie bringen Frauen nun diese Macht ins Wanken?
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Sie missbrauchen ihre Macht nicht heimlich. Das zeigen die jüngsten Vorwürfe gegenüber Stars und Führungspersonen wie Julian Reichelt, Til Schweiger und Till Lindemann. Solche Männer tun es ohne Scham, während der Arbeitszeit: in der Redaktionssitzung, bei der Firmenparty, am Set und in der Konzertpause. Machtmissbrauch ist keine Frage der psychologischen Beschaffenheit einzelner Mächtiger. Es ist ein Thema von Arbeit und Organisationen, von Arbeitsrecht und Arbeitspolitik. Denn manche Arbeitsformen und Branchen begünstigen Machtmissbrauch mehr als andere. Schauen wir uns die drei Beispiele von mutmaßlichem Machtmissbrauch einmal an, die öffentlich geworden sind.
Zunächst zu dem Fall, der gerade am meisten Aufmerksamkeit bekommt: Till L
mt: Till Lindemann von der Band Rammstein. Hier geht es um das große Eventbusiness, denn eine Band tourt ja nicht einfach allein durch die Welt. Um ihre Konzerte kümmern sich Konzertveranstalter – und die bekommen von dem, was auf einer Tour passiert, etwa 95 Prozent mit, erzählt einer von ihnen. Natürlich ist nicht jeder von dem Eventunternehmen bei jeder Party dabei. Aber es ist nahezu unmöglich, dass die Gewerke um eine Tour wie die von Rammstein nicht bemerken, dass backstage und unter der Bühne mutmaßlich Dinge passieren, die nicht passieren dürfen. Aber warum sagt niemand was?Rammstein ist eine FirmaDas liegt an den enormen Summen, um die es in diesem Business geht. Mit dem zunehmenden Erfolg von Bands nimmt auch der Verdienst von Labels, Management, Veranstaltern, Promotern und Locations zu. Unerwünschtes Verhalten der Stars, die für Millionen Euro Umsätze sorgen, bleibt da oft konsequenzlos – auch gibt es eine Verschwiegenheitspflicht. Zudem führen Erfolg und Fantum zu übersteigertem Selbstwert bei Musiker*innen, aber auch zu großem Erfolgsdruck, der kompensiert werden muss.Rammstein ist nicht nur eine der erfolgreichsten Bands Deutschlands, sondern auch ein Firmengeflecht: Es gibt sogar Rammsteiner Bier. Als Firmengeflecht hält sie Konzerterlöse, den Verkauf von Platten und Merchandise zum Teil selbst in der Hand. Auf die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen reagiert Till Lindemann beim Münchener Konzert Anfang Juni: „Wir hatten ein Riesenglück mit dem angekündigten Unwetter, glaubt mir: Das andere wird auch vorbeiziehen.“ Es scheint, als sei Lindemann bewusst, wie viel Macht sich da bei ihm konzentriert.Um Macht geht es auch bei großen Medienkonzernen wie Springer, womit wir bei Julian Reichelt wären, dem ehemaligen Chefredakteur der Bild. Journalismus – und vor allem der schnelle News-Journalismus – findet meist mit knappen Ressourcen, unter hohem Zeitdruck und Erfolgsdruck statt. Die redaktionelle Arbeit ist dabei oft traditionell hierarchisch organisiert: Chefredaktion, Redaktionsleitung, Redakteurin, Volontär. Laut dem Verein Pro Quote Medien hatten Frauen im Jahr 2022 bei Bild weniger als ein Drittel der journalistischen Führungspositionen inne. Die eigene Karriere ist folglich davon abhängig, ob dem Chefredakteur gefällt, was frau und man tut.Wenn nur erfahrene und führungskompetente Menschen Chefredaktionsposten bekleiden, ist gegen eine klassische Hierarchie eigentlich nichts einzuwenden. Problematisch wird es, wenn sie führungsinkompetent sind. Noch problematischer, wenn um sie herum ein Personenkult entsteht und sie vom Vorstandsvorsitzenden protegiert werden.Placeholder image-1Julian Reichelt hatte viel Wissen – und viele AffärenJulian Reichelt war nicht nur Chefredakteur, sondern auch Geschäftsführer der Bild-Gruppe. Dadurch konzentrierte sich sowohl formelle als auch informelle Macht bei ihm: Zugehörigkeit und familiäre Geschichte bei Bild, Wissen über Unternehmensprozesse, kurze Dienstwege, die Beziehung zum Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner, das berufliche Netzwerk und auch die simple Tatsache, ein Mann zu sein. Reichelt soll als Workaholic gern private Beziehungen zu jungen Angestellten gepflegt haben, die er beruflich förderte. Die jungen Frauen standen dadurch in einem psychologischen und finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zu ihm .Gegen den Missbrauch solcher Abhängigkeiten gibt es natürlich Maßnahmen. Große Unternehmen sind verpflichtet, so genannte Whistleblower-Meldekanäle für Beschwerden über Vorgesetzte zur Verfügung zu stellen. Im Fall von Reichelt haben sich Frauen auch an solche Meldestellen gewandt, mit Folgen: Er wurde freigestellt. Aber danach kehrte er auf seinen Posten zurück. Erst ein halbes Jahr später wurde das Arbeitsverhältnis beendet.Danach veröffentlichte der Konzern einen Verhaltenskodex: Der erste aufzusuchende Ansprechpartner sei der Vorgesetzte. Aber was ist, wenn genau der das Problem ist? Dann wendet man sich an den Chief Compliance Officer. Der Chief Compliance Officer bei Axel Springer ist ein (weißer) Mann, die Gruppe der sechs Senior Compliance Manager*innen besteht aus drei Männern, drei Frauen. Alle sind weiß und ohne sichtbare Behinderung. Was das Problem daran ist? Dass vermutlich nur drei von sieben überhaupt selbst Erfahrungen mit struktureller Diskriminierung haben.Placeholder image-2Das Genie Til Schweiger: Schauspieler, Regisseur, DrehbuchautorSehen wir uns nun die Filmbranche an, in der Til Schweiger arbeitet. Schauspielende, Drehbuchautorinnen, Kameraleute, Set-Designer, Lichtverantwortliche und Kostümbildner arbeiten frei oder haben temporäre Dienstverträge. Beim Verhandeln werden sie zum Teil von Agenturen vertreten, aber es gibt keine institutionelle Gemeinschaft, in der man sich über Arbeitsbedingungen austauscht. Budgets für Film- und Serienproduktionen werden laut Insidern seit Jahren nicht erhöht, trotz steigender Kosten. Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten stehen dafür seit Jahren in der Kritik. Serien und Filme sollen in immer weniger Drehtagen produziert werden, also wird an Gagen gespart. Bei fehlender Passung werden Menschen ausgetauscht.Stars wie Til Schweiger betrifft das nicht, kein Wunder: An ihm verdienen Sender und Produktionsfirmen viel Geld. Dadurch konzentriert sich bei Schweiger viel Macht. Er vereint oft drei Gewerke unter sich: Drehbuch, Regie und Schnitt. Häufig spielt er in seinen Filmen die Hauptrollen. Manchmal ist er auch der Produzent.Damit handelt sich Schweiger sehr viel Macht ein – aber auch viel Arbeit. Der große Druck soll sich in cholerischem Verhalten, mutmaßlich in physischer Gewalt, Überstunden und Alkoholmissbrauch ausgedrückt haben. Die Verträge der Beteiligten am Set enthalten jedoch Geheimhaltungsklauseln, die das Melden von Verstößen erschweren. Außerdem sind Ausfallszenarien verhandelt. Bei unverschuldeten Ausfällen greift eine so genannte Ausfallversicherung. Um nachvollziehen zu können, ob ein krankheitsbedingter Ausfall unverschuldet ist, ist in diesen Fällen die ärztliche Schweigepflicht aufgehoben. Bei selbst verschuldeten Ausfällen werden die Kosten für den Drehtag der Verursacherin in Rechnung gestellt. Das sind pro Tag schnell 100.000 Euro.Dieses System nennt man PatriarchatHinter dem Personenkult rund um schillernde Figuren wie Lindemann, Reichelt oder Schweiger stehen also krasse ökonomische Machtverhältnisse – und dazu kommen die ganz normalen gesellschaftlichen Machtstrukturen. Der toxische Personenkult wurde lange mit dem Status von Genies, mit angeborenem Talent, mit einem IQ über 140 erklärt – und natürlich: mit Männlichkeit. Inzwischen entsteht vermehrt auch um Frauen Personenkult. Aber nach wie vor lässt sich feststellen: In Führungspositionen sitzen überwiegend Männer. Regie, Produktion und Hauptdarstellung sind überwiegend in männlicher Hand. Die Zahlen der Songwriterinnen und Musikerinnen waren laut University of Southern California Annenberg 2020 sogar rückläufig. Folglich verfügen Frauen durchschnittlich über deutlich weniger Vermögen. Ihre Möglichkeit, Macht zu konzentrieren und zu missbrauchen, ist deshalb schon statistisch geringer.Dieses System nennt man Patriarchat. Ist die Konsequenz deshalb: „Stars shouldn’t exist“? Nein. Aber an den Beispielen Reichelt, Schweiger und Lindemann lassen sich Muster erkennen, aus denen sich Maßnahmen ableiten lassen. Undurchdachte Forderungen helfen dagegen nicht: Der Vorschlag, Frauen bei Konzerten in „Safe Spaces“ unterzubringen, reproduziert das Bild der hilflosen Frau, die zu ihrem Schutz in ihrer Freiheit eingeschränkt werden muss. Wo bleibt da die Forderung nach Männerbereichen, die sie nur dann verlassen dürfen, wenn sie einen Alkohol- und Drogentest bestehen und Übergriffigkeit rückwärts buchstabieren können?Es geht nicht um Einzelne, es geht um ein System. Und ein System kann ins Wanken gebracht werden. Denn Macht entsteht vor allem, weil sie verliehen wird. Von Fans, von Angestellten, Mitarbeiterinnen. Ein Chefredaktionsposten oder Regiestuhl kann entzogen werden. Bewunderung auch. Bühnen können verweigert, Tickets nicht gekauft werden. Das würde allerdings für Fans bedeuten, das eigene Vergnügen dem Wohl Betroffener unterzuordnen. Es würde bedeuten, demokratischen Werten treu zu sein. Dazu sind viele nicht bereit. Was Lindemann dichtet, singt und mutmaßlich tut, scheint eine breitere Basis zu finden, als man in einem demokratischen Staat zu hoffen wagt.Aber auch arbeitspolitisch lässt sich etwas tun. Die Filmbranche könnte festlegen, dass eine Person maximal zwei Gewerke besetzen darf, um massive Konzentration von Macht zu verhindern und Nachwuchstalenten einen Aufstieg zu ermöglichen. Das würde Macht eindämmen.Macht kaputt, was euch kaputt machtEin weiteres Muster, das wir in den drei Fällen erkennen können, ist die Isolation der potenziellen Opfer. Die Geliebten von Julian Reichelt hatten ein eigenes Interesse daran, dass ihre private Verbindung nicht publik wird. Denn die Regeln des Patriarchats arbeiten stets für den Täter, der genau weiß, dass jungen Frauen vorgeworfen würde, sich hochzuschlafen, und ihr Erfolg nicht auf Talent beruhen kann.Am Filmset brauchen die Mitarbeitenden eine Lobby, die es ihnen erlaubt, sich zu beschweren, ohne ihren Ruf zu gefährden. Und die jungen weiblichen Rammstein-Fans? Auch sie bilden keine Gemeinschaft. Das heißt aber nicht, dass sie mutmaßlichen Tätern ganz allein gegenüberstehen. Machtmissbrauch findet unter Zeug*innen statt, die meistens nicht eingreifen. Warum gibt es keine Abmahnungen bei unterlassener Hilfeleistung?Solange die Strukturen so sind, wie sie sind, scheint der beste Weg für Betroffene die Öffentlichkeit zu sein: Soziale Netzwerke sind barrierearm – und erzeugen Gemeinschaft. Denn die braucht es, wenn Machtmissbrauch Konsequenzen haben soll. Sehen wir uns zuletzt noch kurz den Fall des Musikers und Unternehmers Fynn Kliemann an, der mit seinen Geschäftspartnern fehlerhafte Masken an Geflüchtetencamps schickte und in einem Whatapp-Chat schrieb: „Krise kann auch geil sein“. Kliemann ist das neue Covergesicht der aktuellen Business Punk. Der Titel: „Danach kann auch geil sein“.So sehen Konsequenzen für Machtmissbrauch derzeit aus. Betroffenen hilft deshalb nur: Bildet Banden!