Der Tag seines größten Glücks ist auch der Tag der größten Zurückweisung. Glück, weil Maciej Gośniowski das erste Mal in seinem Leben mit einem Mann schläft und nun weiß, dass er nicht asexuell ist, wie er 18 Jahre lang glaubte. So abwegig war der Gedanke, auf Männer zu stehen. Zurückweisung, weil er sich danach schuldig fühlt und das Geschehene dem Priester seiner Gemeinde beichtet, der ihn daraufhin verstößt. „Dieser Moment hat mich verändert“, sagt Gośniowski über zehn Jahre später.
Groß gewachsen und mit breitem Kreuz sitzt er in einer der vielen Café-Ketten im Zentrum Warschaus und fährt sich mit seinen gold lackierten Fingernägeln durch das hellblond gefärbte, schulterlange Haar. „Ich war irgendwie anders, auch wenn ich das damals noch nicht wusste“, sagt Gośniowski, der in einer Kleinstadt im Süden Polens in einer religiösen Familie aufwuchs. Weil er sich anders bewegte, wurde er von seinen Mitschülern auf dem katholischen Gymnasium gemobbt und sogar geschlagen.
Bischöfe warnen
So wie Gośniowski wachsen viele junge Menschen in Polen in dem Glauben auf, dass das, was sie fühlen, falsch ist. Im Jahr 2015 nahm sich der 14-jährige Dominik das Leben, weil er in der Schule „Pedzi“, eine Kurzform für „Schwuchtel“, genannt und Steine auf ihn geworfen wurden. Es ist nur eine von vielen Nachrichten, die in den vergangenen Jahren in den polnischen Medien zu lesen waren. Laut einer Studie der Universität Warschau aus dem vergangenen Jahr berichten zwei Drittel der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender in Polen, in den vergangenen zwei Jahren Gewalt erfahren zu haben. Und die nimmt ihren Anfang meist in der Schule oder im Elternhaus. Demnach berichten nicht heterosexuelle Jugendliche zwanzig Mal häufiger, dass sie an Selbstmord denken, als ihre heterosexuellen Altersgenossen. Zahlen, an denen sich nun endlich etwas ändern soll.
Am 20. Februar steht Rafał Trzaskowski auf der Bühne des Warschauer Rathauses. Entschlossen hält er eine unterschriebene Urkunde in die Kameras. Mit der Unterzeichnung der LGBT-Charta erklärt der Bürgermeister die Hauptstadt Polens zur Schutzzone von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender-Personen. Im Oktober 2018 hatte Trzaskowski von der liberal-konservativen Bürgerplattform Platforma Obywatelska (PO) bei den Lokalwahlen gewonnen – auch durch die Unterstützung der LGBT-Community. Auf Grundlage der Charta sollen in den kommenden fünf Jahren konkrete Maßnahmen zum Schutz der LGBT-Community getroffen werden. Zu einer Zeit, in der Rechte von Minderheiten in Polen immer mehr unter Druck geraten. Die LGBT-Charta sieht unter anderem die Schaffung einer LGBT-Notunterkunft oder die Einrichtung eines Nottelefons vor. Selbst im liberaleren Warschau werden homosexuelle Menschen regelmäßig Opfer verbaler und physischer Übergriffe.
Einer der sensibelsten Punkte ist das sogenannte Leuchtturmwächterprogramm. „Wir wollten zeigen, dass es auf der lokalen Ebene einen Weg gibt, um diesen jungen Menschen zu helfen“, sagt Oktawiusz Chrzanowski, das Gesicht der LGBT-Community Warschaus. „Die Idee ist, dass es in jeder Schule eine Person gibt, die sich der Probleme der Schüler*innen annimmt.“ Auf seinem runden Kopf trägt er eine schwarze Cap mit Blumenmuster, darunter blitzen zwei hellblaue Augen hervor. Er ist der Mann hinter der LGBT-Charta. Acht Monate lang versuchte er, den Bürgermeister von Warschau zu überzeugen, die Erklärung zu unterschreiben. Zudem soll an den Schulen ein freiwilliger Sexual- und Antidiskriminierungsunterricht nach WHO-Standards eingeführt werden. Bislang gab es den nicht. Seit die Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, kurz: PiS) vor vier Jahren an die Regierung kam, haben sich Lehrpläne in puncto Diskriminierung laut Human Rights Watch eher verschärft. Die Charta markiert einen historischen Moment, nicht nur für den Aktivisten. Doch was dann kam, hatte auch er nicht erwartet.
Als Reaktion auf die Unterzeichnung der Charta warnt die polnische Bischofskonferenz, die Gleichbehandlung von Homo- oder Transsexuellen würde die europäische Zivilisation gefährden. Die Ausweitung von LGBT-Rechten diskriminiere die Mehrheitsgesellschaft. Und auch die PiS geht zum Angriff über. Auf einem Parteitag Anfang März kritisiert Parteichef Jarosław Kaczynski die Erklärung und spricht von einer „Attacke auf Kinder“ und „Frühsexualisierung“, die durch den neuen Schulunterricht gefördert werde.
„Wir sind überall“
Einen Monat später, auf einer katholischen Konferenz, sagt er weiter: „Die LGBT- und Gender-Bewegung bedroht unsere Identität und unsere Nation.“ Kaczynski versteht LGBT-Rechte als Import aus dem Westen. Bereits 2013 äußerte er sich dazu im gleichgeschalteten Staatssender TVN: „Das ist etwas, das aus dem Westen zu uns kommt, und nicht alles, was aus dem Westen kommt, ist gut für uns. Irrsinn im Westen bedeutet nicht, dass wir diesen Irrsinn auch brauchen.“ Die Methode ist bekannt: Nach den Migrant*innen wird die LGBT-Szene zum neuen Feindbild der PiS. Kurz vor den EU-Wahlen Ende Mai und den polnischen Parlamentswahlen im November kommt das gerade recht, um Wähler*innen zu mobilisieren. Bei den Parlamentswahlen 2015 hatte das funktioniert: Die PiS gewann mit 37,6 Prozent.
Fragt man Oktawiusz Chrzanowski, dann wird der Plan dieses Mal nicht aufgehen: „Die Gesellschaft hat sich verändert. Wir sind überall, in jedem Teil der Gesellschaft. Das haben sie nicht erwartet.“ Dass immer mehr Polen homosexuelle Menschen persönlich kennen, habe dazu geführt, dass sich die Bevölkerung ihr eigenes Bild gemacht habe. Und das ist ein anderes, als ihnen die Regierung verkaufen will. Nach jüngsten Umfragen sprechen sich 41 Prozent der Polen für eine Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe aus. Vor vier Jahren waren es noch 29 Prozent. „Die Gesellschaft hat gezeigt, dass sie liberaler und progressiver ist als ihre Politiker“, sagt der Aktivist. Ein großer Teil der Polen lasse sich von der Stimmungsmache der Regierung nicht einspannen. Das würden die Proteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes im vergangenen Jahr ebenso zeigen wie die Zunahme der Pride-Paraden in Polen. Inzwischen sind sogar zwei weitere Chartas in den ebenfalls von der PO regierten Städten Łódź und Posen in Planung.
Maciej Gośniowski, der in der Schule gemobbt wurde, weil er sich anders bewegte, tanzt heute auf den Bühnen Europas seine Drag-Shows. Er ist queer und hat inzwischen kein Problem, das zu zeigen. Dazu mussten über 20 Jahre vergehen. „Es ist nicht einfach, als nicht heteronormativer Mensch in Polen zu leben. Ich wollte nur normal sein, was auch immer das bedeutet. Ich dachte, es wäre einfacher.“ Dass seine Eltern ihn damals besonders maskulin erzogen, weil er sich – anders als sein Bruder – nicht für Dinge wie Fußball interessierte, nimmt er ihnen nicht übel. „Sie wussten es nicht besser“, sagt Gośniowski und zuckt mit den Schultern, während er noch eine Menthol-Zigarette anzündet. Deshalb sei die LGBT-Charta so wichtig: Weil sie den Menschen beibringt, dass es nicht falsch ist, anders zu sein.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.