Alles am Fluss

Idealismus Im Berliner Spreefeld probieren 130 Menschen eine neue Art des Zusammenwohnens – nicht nur für reiche Kreativlinge
Ausgabe 48/2017

Eigentlich ist das Gespräch gerade vorbei, die Architektin, Planerin, Projektmacherin Silvia Carpaneto ist aber viel zu freundlich, um zu sagen, dass der nächste Termin längst drängt, doch dann hält sie noch einmal inne für ein paar dahingeworfene Sätze, die absolut pathosfrei, unergriffen, schmunzelnd daherkommen und alles zusammenbinden, was sie da am Berliner Spreeufer über Jahre so getrieben haben – und weit darüber hinausweisen, auf eine Einstellung nämlich, auf ein Grundverständnis von Stadt und Planung, von Bauen und Wohnen und deshalb auch von Gesellschaft: „Wir schauen eigentlich gar nicht auf Häuser. Sondern auf Strukturen und letztlich auf Menschen, die sie herstellen und das Ganze miteinander machen.“

Wenn Architekten so sprechen, hängt oft schwerer Marketingdunst in der Luft. Carpaneto aber will nichts verkaufen, sie erklärt das Spreefeld Berlin, eine eingetragene Bau- und Wohngenossenschaft, 87 Genossen, samt Kindern 130 Bewohner, 65 Wohnungen, ein altes Bootshaus, tatsächlich mit Boot. Zwischen allem sitzt ein kleines Haus mit Wärmepumpe, Fotovoltaik.

Ein besonderes Wohnprinzip

In den drei Blöcken sind jeweils im Erdgeschoss Büros untergebracht, Ateliers, eine Holzwerkstatt mit einer großen Formkreissäge, „Optionsräume“, da finden Tanzveranstaltungen mit behinderten Menschen statt, oder auch einfach ein Seminar. Darüber wohnen die Genossen, vorn zur Spree hin gibt es terrassengroße Balkone, Dachgärten. Es gibt auch ein besonderes Wohnprinzip: Clusterwohnungen. Das sind einzelne Studios, die sich zu größeren Einheiten verbinden. Zwischen den Häusern laufen Pfade, man geht über Kiesel, Büsche wachsen wild, da steht eine Schaukel, Kinder haben die Plastikrutsche über den kleinen Bach gezerrt, der das Gelände durchmisst. Alles ist lässig verwildert, für das etwas Zugewucherte sorgt auch der Trick mit den offenen Treppenhäusern: Durch sie konnten die Architekten vorgeschriebene Feuerwehrzufahrten vermeiden.

Eigentlich war das Grundstück zuerst nicht auszudenken, es hatte keinen eigenen Zugang, die Genossenschaft kaufte mit Risiko, Pläne wandelten sich, Jahre verstrichen. Heute gibt es einen Stichweg von der Köpenicker Straße durch Investorenbauten. Das Spreefeld ist umkränzt von wuchtigen Kommerzgesten, wendet sich dem Fluss zu, schottet ihn aber nicht ab. Wer will, kann vorbeikommen, durchlaufen, sich an der Spree in die Sonne setzen.

Vor drei Jahren wurden sie hier fertig, aber man darf das mit dem Fertig nicht zu genau nehmen, die Dinge sollen sich verändern können. Deshalb gibt es noch die ein oder andere Spanplatte als Tür, beim wenig genutzten Jugendraum durchbrechen sie gerade eine Wand.

Alle Untersuchungen zeigen, dass immer mehr Singles, immer mehr Gemeinschaften jenseits von Familien, also Patchwork, junge und alte Wohngemeinschaften in den Städten leben wollen. Gebaut werden aber fast ausschließlich Wohnschachteln, die unverändert das Lebensmodell der Kleinfamilie zelebrieren. Als die Spreefeld-Pläne bekannt wurden, konnten sie sich vor Bewerbern kaum retten, es gibt einen Markt für diese Architektur, aber nur ganz wenige Angebote. In Berlin wird etwa zu 95 Prozent am Bedarf und an finanziellen Möglichkeiten vorbeigebaut, zu sehr an Investition gedacht.

Wenn man Carpaneto dazu befragt, seufzt sie ziemlich laut auf. Die Spreefeld-Genossen mussten mit vielen Fußangeln bei Planung und Finanzierung, im Baurecht und bei Genehmigungen mit Schwierigkeiten kämpfen. Der Immobilienmarkt wird beherrscht von Investoren, die auf schnelle, hohe Rendite zielten. Das Spreefeld wollte von Anfang an Gegenbild zu den seit einiger Zeit modischen Baugruppen sein, mit der in vielen Städten eine nur noch „abgespeckte Utopie der Gemeinschaft“ organisiert wird, wie der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman beobachtete. Im Spreefeld hatten sie wenig Lust auf die klassische Baugruppen-Klientel, auf die gut verdienenden Freiberufler und sehr marktfähige Spurenelemente von Kreativität. Sie wollten im Spreefeld auch Menschen mit wenig Geld und Arbeitsverträgen, die in die Unterschicht zwingen. Später auch: Geflüchtete. Ihr Modell spreizte also von Anfang an die Facetten – nicht einfach, wenn zum Beispiel Genossenschaftsanteile von Hartzlern vom Amt wegen als Vermögen berechnet werden und gemeinschaftliches Wohnen für sie eigentlich unmöglich ist.

Von Beginn an anspruchsvoll war auch die Planung: Drei Architekturbüros tüftelten an einem Angebotskatalog für die Wohneinheiten, Bäder, Oberflächen, Küchen, Böden. Jedes Büro plante Teile, Abschnitte, Einzelheiten. Dann warf man alles zusammen. Fragt man Carpaneto, wie einfach das war, lacht sie laut auf: Es gab dafür ganze Workshops. Aber jeder Architekt bekam auch einen Joker, ein Stilmittel, das er einsetzen konnte, ohne große Kompromisse machen zu müssen.

So ist das Spreefeld zu einem Modellprojekt geworden, das auch die großartige Schau des Vitra-Design-Museums Together! Die Neue Architektur der Gemeinschaft aufnahm. Wer die Ausstellung verpasst hat, kann im Katalog nachblättern: Er durchforstet die Geschichte der gesellschaftlichen Umbrüche als Umbrüche von Wohnidealen. Gemeinschaftliches Wohnen ist eine Perspektive, die sich als Antwort auf die Probleme in der Stadt anbietet.

„Wir haben schon mit Baugruppen experimentiert, bevor wir den Begriff überhaupt kannten“, lächelt Christian Schöningh. Er ist einer von denen, die hier leben, planen und von Anfang an das erhebliche finanzielle Risiko mitgetragen haben. Auch Schöningh ist Architekt, Planer, Projektmacher, außerdem schlaksig, Brillenträger, Kleidergrundfarbe schwarz. Er hat ein Studio in einer Clusterwohnung, gleich hinter seiner Tür läuft man durch eine kleine Küche, es gibt Platz zum Sitzen, zum Schlafen, zum Aus-dem-Fenster-Schauen. Außenrum ist mehr Platz: Zu elft wohnen sie auf 400 Quadratmetern, es gibt Wohnzimmer, eine offene Küche, Balkone. Im anderen Block gibt es sogar eine noch größere Clusterwohnung: 22 Genossen wohnen auf 820 Quadratmetern. Wenn es einmal weniger werden, können Durchgänge wieder geschlossen, kleinere Einheiten hergestellt werden.

Rendite und Verrat

Carpaneto und Schöningh sind verheiratet, haben Kinder. Als die erwachsen wurden, zogen die Eltern aus. „Wir hatten keine Lust auf mumifizierte Kinderzimmer, da haben wir ihnen die Wohnung überlassen.“ Ihr Ansatz geht noch weiter: Sie wohnen im selben Cluster, haben beide ihre eigenen Wohnungen. „Es gibt zwei Regeln: Man muss am Eingang die Schuhe nicht ausziehen und jeden Sonntag wird der Kühlschrank leergekocht“, lacht Schöningh. Gut, wenn man genauer hinschaut, gibt es noch andere Regeln, zum Beispiel ist immer ein Bewohner für den Wocheneinkauf von Grundnahrungsmitteln zuständig. In einer anderen Clusterwohnung unterschrieben sich die Genossen gegenseitig Verträge.Ganz so reibungsfrei verliefen die Dinge sowieso nicht. Die Psychologie der Gemeinschaft ist kompliziert, genauso wie in der Gesellschaft aus Haben und Sein. Es gab denn auch kräftig Streit unter Genossen, einige wollen Anteile und Wohnungen verkaufen können, selbst anstelle der Genossenschaft im Grundbuch stehen. Gewaltig gestiegene Immobilien-Renditen zerrten und lockten: Manche mit hohem Einkommen und teureren Wohnungen fragten sich, wie sie beim Wechsel auf andere Professorenstellen, andere Produktionsorte ihren Gewinn machen könnten. Andere mit schmalem Budget erkannten, dass sie sich plötzlich gesundstoßen konnten. Der Streit lief wohl nicht nur im feinen Stil ab, das Wort Verrat schwebte über den Auseinandersetzungen – die neue, experimentelle Wohnform ankert freilich immer auch in der alten Gesellschaft.

Mittlerweile sind die Wogen etwas geglättet und mittlerweile stehen wir auf einer sehr schönen, wieder etwas verwilderten Dachterrasse. Nur kurz lodert noch Zorn bei Christian Schöningh nach, wenn er davon erzählt, dass er beim nächsten Projekt die Klausel, die Genossenschaftsanteile zu Eigentum überschreibbar macht, nicht mehr zulassen will. Es schüttelt ihn ein wenig. Aber dann sagt auch er so einen Satz, der wirklich leichtfüßig und unpathetisch daherkommt. Wir sprechen über den Drang nach Besitz, darüber, dass viele eine eigene Wohnung, ein Haus besitzen wollen, mit einem Zaun davor, um ruhig einzuschlafen. „Hier“, sagt also Christian Schöningh, „schlafen viele mit dem Gedanken ein, Teil von etwas Größerem zu sein.“

Spreefeld Wilhelmine-Gemberg-Weg 10, 12, 14, 10179 Berlin

Info

Together! Die Neue Architektur der Gemeinschaft Mateo Kries, Andreas Ruby, Ilka Ruby (Hg.), Ruby Press, 352 S., 49,90 €

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