Läuft!

Bertram Weisshaar ist professioneller Spaziergangsforscher. Und er hat eine Mission: Er will Menschen dazu bringen, Landschaften anders zu sehen
Ausgabe 34/2014
Für Bertram Weisshaar ist ein Spaziergang mehr als nur herumlaufen
Für Bertram Weisshaar ist ein Spaziergang mehr als nur herumlaufen

Foto: Eric Meier für der Freitag

Natürlich gab es da früher diese Spaziergänge: Verwandtenbesuch bei Tante Gisela, nach dem Sonntagsbraten zu Fuß über einen nordhessischen Hügel. Gleich hinter dem Haus begann der Weg, wochentags fuhren die Bauern Gülle hinauf, sonst hatte es keine Bewandtnis mit diesem Hügel, vielleicht die Erinnerung an Osterfeuer, der Ausblick anderswo war besser. Später dann hinab beim Bauer Schaumburg, zu Kaffee und gedecktem Apfelkuchen.

„Mit Herumlaufen ist es allerdings nicht getan“, sagt Bertram Weisshaar. Und vom Herumlaufen versteht er einiges. Er ist Spaziergangswissenschaftler und Spaziergangsunternehmer. Man kann sagen, er geht professionell. Und weil das erklärungsbedürftig ist, sitzen wir in seinem Wohnzimmer in einem Leipziger Plattenbau. Weisshaar lebt seit vier Jahren hier. Er hat selbst renoviert, überlegt noch, die Tür mit Backsteintapete zu verkleiden. Das wäre nach seinem Geschmack: eine falsche Backsteinwand im Plattenbau.

Weisshaar ist so drahtig, wie man das von einem erwartet, der viel geht. Er setzt sich in einen Sessel, schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarze Ledersandalen. Er lacht gern. Es beginnt ganz sacht, aber schnell lacht er mit dem ganzen Oberkörper. Er freut sich wirklich, hat man den Eindruck, einem die Prinzipien der Spaziergangswissenschaft zu erklären.

Akademische Experimente

Natürlich war das eine Provokation von Lucius Burckhardt in den 80er Jahren: Spazierengehen als Wissenschaft! Burckhardt, Spross einer Basler Gelehrtenfamilie, später Nationalökonom und Soziologe, promovierte bei Karl Jaspers, war Professor an der Gesamthochschule Kassel. Die Spaziergangswissenschaft erfand Burckhardt in Zeiten, in denen Hochschulen noch Experimente zuließen, als sie für viele Studierende noch alternativer Lebensraum waren. Aber auch Mitte der 1980er galt die Spaziergangswissenschaft, nun ja, nicht als wichtigstes Pferd im Stall. „Die Universitätsleitung hat ihn schon gefragt, ob er sich das nicht noch einmal überlegen wolle“, erzählt Weisshaar und schmunzelt. Vielleicht kommt der Begriff Promenadologie auch daher: Die eigene Disziplin mit Fremdworten aufzubrezeln hat im akademischen Betrieb ja noch nie geschadet.

Tatsächlich schöpfte Burckhardt für das experimentelle Nebenfach Spaziergangswissenschaft aus Disziplinen wie Urbanistik, Soziologie, Landschaftsplanung und Architektur. Er verstand die „Ästhetik des Raumes“ als Forschungsgegenstand. „Die Grundfrage lautet: Was ist Landschaft, was ist Stadtbild?“ Sein bekanntester Aufsatz gab einem Sammelband den Namen: Warum ist Landschaft schön? Bertram Weisshaar, ausgebildeter Industriefotograf, seit 1991 eingeschrieben im Studiengang für Landschaftsplanung, spazierte mit Burckhardt damals durch den Kasseler Bergpark, Wilhelmshöhe. Oben angelangt sagte der Professor: „Landschaft gibt es gar nicht.“ Weisshaar lacht, wenn er sich daran erinnert. „Da steht man erst mal doof da, als Studienanfänger.“

Es geht also um die Betrachtung als Konstruktion, um etwas, das zwischen Erwartung und Wahrnehmung changiert, etwas, das im Gehen langsam aus Einzelteilen eine Sequenz macht und einen anderen Blick, eine andere Bewertung herstellt. Ist die überwachsene Brache unwirtlich? Was sehen wir, wenn wir gemütlich durch Parkhäuser laufen, an Regentagen durch Einkaufspassagen? Burckhardts Diktum lautete: „Landschaft findet im Kopf statt.“

Für Weisshaar bedeutet das erst einmal, sich über das eigene Schauen Gedanken zu machen. Gehen war ihm, der in den 70ern in Villingen-Schwenningen aufwuchs und dort die Last der Provinz spürte, nah: „Dort war ich vom Auto abhängig. Ich habe das gehasst.“ Wenn er von Autos spricht, bricht etwas aus ihm heraus: Er sieht in ihnen die Geringschätzung von Entfernung, den Motorenlärm, eine militante Haltung: „Es ist, als wären wir wieder wie 1914! So ziehen wir doch hinaus!“ Im Schwarzwald engagierte er sich für Fahrradfahrer, in Kassel traf seine innere Opposition auf die Empörung von Lucius Burckhardt. Der hatte in den Fünfzigern gegen die Stadtplanung Basels aufbegehrt, nachdem er darin große Abrissvorhaben für den Autoverkehr fand. Breitere Straßen sollten her, historische Gebäudezeilen planiert werden. Burckhardt wehrte sich, organisierte Mitstreiter. Die Erfahrung prägte ihn.

Auch Weisshaar hat sich nie anfreunden können mit der Welt der Automobile, mit Geschwindigkeit und Straßenbau. Und er entdeckte dann Landschaften in scheinbar totem Gelände: In den Abraumhalden ostdeutschen Braunkohletagebaus, die er in den Neunzigern durchstreifte. Landschaften, die als Sinnbild für Naturzerstörung und die dysfunktionale Wirtschaft der DDR galten. „Für mich war klar, dass es da schön, dass das faszinierend ist.“

Er organisierte Exkursionen mit dem Bauhaus Dessau, mit einem Reiseveranstalter, mit Freunden: „Da wir in Deutschland auf den Landschaftstyp Wüste verzichten müssen, waren diese Brachen immerhin ein passabler Ersatz“, notierte er in einem Aufsatz zur Sehnsucht nach Wüste in Deutschland. Einer Bewohnerin des Örtchens Gremmin, längst dem Tagebau geopfert, half der Spaziergang bei der Trauerbewältigung: Sie brachte Blumen hinab in die verkarsteten Schluchten, die die Stätte ihrer Kindheit gefressen hatten.

Denn die Landschaft als Konstruktion geht auch über in die Konstruktion von Landschaft: Weisshaar und Freunde bepflanzen Brachen, illustrieren Sichtachsen. Bei Burckhardt hatte er Seminare in Parklücken erlebt, marschierte mit Windschutzscheiben durch Kassel, um durchzuschauen und die Veränderung der Wahrnehmung zu beobachten. Zu seinen Spaziergängen kann heute ein literarischer Kommentar gehören, ein Stadtplaner, der über Potenziale spricht. Manchmal setzt er einen Alphornspieler auf einen Müllberg, nach einem Gang durch Einkaufszentren am Leipziger Stadtrand etwa.

Es geht um Schönheit, um den Blick auf von Menschen geschaffene Landschaften – und um unsere Urteile. Für Weisshaar ist die Veränderung der Wahrnehmung auch ein Ansatz, die Welt zu verändern: Wenn man nur lange genug spaziere, verändere sich der Blick. „Nach einer Stunde entspannt man sich, die Hitze der Diskussionen verfliegt.“ Klar, es gibt Menschen, die Ähnliches übers Kiffen sagen, Weisshaars Variante klingt etwas gesünder und sie zielt aufs Kollektiv. Ein präzises Programm hat er aber nicht. Wenn man ihn drängt, mehrfach nachfragt, sagt er: Ja gut, sich der eigenen Blickpolitik gewahr zu werden, das könne Spazierengehen politisch machen.

Ein See ist nicht spazierbar

Als die Abraumhalden bei Bitterfeld geflutet wurden, verschwand auch die Wüste. Vergeblich versuchte Weisshaar, wenigstens Teile zu bewahren. Heute bedeckt Wasser die Vergangenheit, mache den Menschen blind, sagt er. Zwar sind auch Badeseen Landschaften, nur seien sie nicht spazierbar. Zeit zu gehen für Weisshaar. 2002 zog er nach Leipzig.

Im 18. Jahrhundert teilte man sich eine teure Zeitung auf der Straße, Promenieren war da Teil öffentlicher Meinungsbildung: Man las, lief, diskutierte. Mit der Französischen Revolution bekam der Bürgersteig sein städtebauliches Recht. Heute werden Gehwege in Leipzig zugeparkt und Weisshaar ahnt die Grenzen seiner Methode: Er hörte bei der Leipziger Bürgerinitiative der Autofahrer zu. Ob sie aber aus einem gemeinsamen Spaziergang mit ihm etwas gelernt hätten, bezweifelt er. Jedenfalls war er froh, dass dort nur Gegner des wilden Parkens erschienen. „Das wäre sonst nicht gut ausgegangen.“

Einen Tag nach dem Gespräch in seiner Wohnung in Riesa-Gröba. Die Stadt schrumpft, längst verblichen ist das „größte metallurgische Kombinat der DDR“. Über 10.000 Arbeiter gewannen hier einst Stahl, etliche kamen aus dem angeschlossenen Knast. Der ist heute weg, für etwa dieselbe Menge Stahl braucht es nur noch 500 Arbeiter. Periodisch schrecken Meldungen von hohen Dioxinwerten die Menschen auf. Und die Stadt ist als Sitz der NPD-Hauspostille Deutsche Stimme bekannt. Wer vom Bahnhof zur Berufsakademie läuft, bekommt aus fahrenden Golfs schon mal Hitlergrüße gezeigt. Im Kopf entsteht eben nicht nur Landschaft.

Weisshaar, diesmal rote Schuhe, rote Hose zum schwarzen Hemd, hatte vorher sacht gewarnt: Dies sei vielleicht nicht der typische Spaziergang, wie er sie sonst mache. Die Stadtverwaltung hatte ihn eingeladen, er brachte eine Stadtplanerin mit. Ein moderierender Gang entlang vom Projekten, die der Europäische Fonds für regionale Entwicklung gefördert hat. Es ist brütend heiß, vor allem Rentner kommen zum Sammelpunkt, neben Angestellten der Stadt und Lokalpresse. Es gibt Apfelsaft und blaue Beutel, auf denen steht: „Hier kommen Ihre Ideen zum Tragen.“ Der Verwaltungsmann sagt: „Zur Steigerung der Erlebbarkeit des Gebietes wurden kleingärtnerisch genutzte Flächen geräumt.“ Man schwitzt schon vor dem Loslaufen.

„Talk Walks“ nennt Weisshaar solche Runden. Mit Lautsprecher und Mikrofon am Tragegurt zieht er los. Wenn Paris den bürgerlichen Flaneur schuf, wie Walter Benjamin behauptet, sind wir in Riesa beim Didaktiker mit Zeigezielen: Wir halten an EU-geförderten Steinen, auf die man sich setzen kann. Wenn jemand Baumreihe und Büsche wegnähme, sähen wir die Elbe: „Sichtachsen schaffen“, mahnt die Stadtplanerin an, dreht sich um, zeigt auf ein langgestrecktes Gebäude im fortgesetzten Verfall: So etwas zu erhalten, koste, lohne sich aber. Der Bürgermeister im schwarzen Anzug zuckt nicht mal mit den Schultern.

So geht das eine Weile, alle paar Minuten sammelt Weisshaar die Gruppe – auf einer Metalltreppe, vor einer Brücke. Wir lernen schauen. Beim Gehen verstreut sich die Gruppe dann wieder, man kommt ins Gespräch. Ein Mann im Hemd freut sich ehrlich: „Was die EU hier alles finanziert – Wahnsinn.“ Langsam trauen sich andere ans Mikrofon. Um Sichtachsen steht es wiederholt schlecht, Rentner belagern den Bürgermeister, einige mosern über ein teures Jugendzentrum, das bei der nächsten Flut absaufen werde. Sie schauen nachher überrascht, als ihnen vor Ort hochgelegte Stromleitungen gezeigt werden. Vorurteile schmelzen. In einem Uferwäldchen spielt Weishaar Salsa. Er jubelt: „Eigentlich ein Urwald hier!“ Unter den Bäumen ist es schattig, irgendetwas entspannt sich, die Gesichter blicken verzückt.

So springt sie an, die Bürgerschaft, bei jedem Halt hat jemand eine neue Idee. Weisshaar hat einen Getränkestand organisiert, Landschaft als Konstrukt ist gut, handfeste Forderungen an die Stadtverwalter scheinen aber beliebter. Vieles riecht nach Rentnerspaß: „Hier eine öffentliche Toilette, Strom- und Wasseranschluss und wir könnten den Platz fürs Brückenfest nutzen.“ Der Bürgermeisteranzug glänzt schwarz in der Sonne, der Amtsträger schwitzt erstaunlich wenig. Er sagt: „Wer eine Toilette will, hat keinen Überblick über unsere Finanzen.“

Und Bertram Weisshaar? Er lächelt gerade etwas unentschieden. Er wird von zwei Rentnern vor der Kirche abgedrängt – sie sprechen über Hochwasser. Vielleicht denkt er jetzt, dass es nur mit Herumlaufen einfach nicht getan ist.

Der Blick auf Landschaftist ein Kind der bürgerlichen Gesellschaft, hat der Philosoph Joachim Ritter in seinem Aufsatz Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft bemerkt. Zwar stellte bereits Petrarca im 14. Jahrhundert beim Bergwandern die Schönheit der Natur fest – und nahm sie nicht wie viele Zeitgenossen als Bedrohung wahr. Allerdings, schreibt Ritter, habe ihn wohl die Religion auf den Gipfel getrieben: Petrarcas Schauen war also eine Suche nach Gott – und somit noch nicht wirklich modern. Der Wandel von der Natur zur Landschaft sei hingegen „Frucht und Erzeugnis des theoretischen Geistes“. Einen ästhetischen Wert könne der Natur erst jemand beimessen, der sich von der Arbeit in ihr befreit und von der Religion emanzipiert habe. Landschaft entsteht somit durch einen Bruch mit der Natur.

Bertram Weisshaar beschäftigt sich als Spaziergangsforscher genau mit diesem Bruch. Geboren wurde er 1962 in Villingen-Schwenningen. Nach seiner Ausbildung zum Fotografen arbeitete er zunächst als Industriefotograf. Von 1991 bis 1996 studierte er Landschaftsplanung und Spaziergangswissenschaft an der Gesamthochschule Kassel bei Lucius Burckhardt. Zwei Monate will Weisshaar nun nächstes Jahr hinausgehen und einen Wanderweg entwerfen. An der „Rückseite der Kultur“ entlang, von Aachen nach Zittau.

Lesetipps:
Spaziergangswissenschaft in Praxis. Formate in Fortbewegung
Bertram Weisshaar (Hg.), Jovis 2013, 288 S., 38 €

Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft Lucius Burckhardt Martin Schmitz Verlag 2006, 358 S., 18,80 €

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