Brüllen musst du

Rumänien In Györgi Dragomán lebt die Erinnerung an die Diktatur, seinen Novellen ist Gewalt als Klima eingeschrieben. Musik aber gibt Hoffnung
Ausgabe 07/2019

Györgi Dragomán – schwarze Stiefelletten, schwarze Jeans, schwarzer Rollkragenpullover, die dunklen Haare kurz und mit viel Grau – legt die Ellenbogen auf dem Tisch ab, zieht die Schultern zusammen, man könnte meinen, er ducke sich in die Antwort, beide Hände in die Höhe. Wir unterhalten uns schon eine Weile über dystopische Aspekte. Fragen von Macht in seinen Erzählungen. Darüber, wie er von kleinen Dingen, einzelnen Ereignissen, einer Stimmung ausgeht, manchmal von dort, ohne eigentlich dazu aufgebrochen zu sein, beim Roman landet. Dragomán, das lässt die vergangene Dreiviertelstunde vermuten, ist niemand, der seine Fröhlichkeit zu schnell freigibt. Jetzt fliegen die Hände nach vorn, „das“, sagt er mit einem feinen Lächeln, „ist so optimistisch, wie ich eben sein kann“.

„Das“ sind Druckfahnen überraschender, anfassender, manchmal Bündel und Kreise bildender, dann versickernder oder abreißender Erzählungen, konzentrierte und um alle Überflüssigkeiten bereinigte Kurzprosa: Löwenchor. Ein wunderbarer Reigen, abrupte Einstiege, knapp hingepinselte Szenarien, eine halbe Geste, eine Klemme, in die jemand gerät, Momente, in denen sich die Welt vor Kinderaugen auffaltet, vor Reisenden, die fremd in der Stadt sind, das Innenleben von Eltern oder Frauen, die eben gerade, in der unpassendsten Situation, verlassen werden. Das mit dem Optimismus ist also so eine Sache.

„Ich empfehle, die Lektüre immer mal durch das eine oder andere Musikstück zu ergänzen“, rät die nette Suhrkamp-Pressesprecherin. Aber nach wenigen Novellen ist klar: Dragomán zaubert einem Lieder, Taktfolgen, rhythmengebende Instrumente, Trommelschläge von Demonstrationskapellen, sogar eine Äolsharfe im Wind so kristallklar in den Kopf, dass das eine überflüssig verdoppelnde Geste ist.

Musik ist eine elementare Ressource, die das Personal des Löwenchors für die Dauer eines Liedes, oder nur eines Tons, mit der Welt, nun ja, versöhnen kann. Der Druck des Moments weicht, die Klänge lotsen aus der Bredouille, schaufeln den nüchternen Blick auf die brüchige Realität frei: „Für einen Augenblick dachte sie“, heißt es in Das System und seine Feinde, „sie bilde sich alles nur ein, dass sie hier mitten in einer fremden Stadt stand, vollkommen allein auf einer menschenleeren Allee, und dann vernahm sie den Gesang, er kam aus der Richtung der weißen Kuppel, es war eine stetig anschwellende laute Klage, der Gesang hallte zwischen den Betongebäuden, wurde vom dichten Regen gedämpft, Worte waren nicht zu verstehen, doch es mussten sehr viele sein, die da sangen, erhaben und bedrohlich zugleich, eine Hymne oder ein Marsch, Erika spürte, wie sich die Melodie in sie hineinbohrte, es fühlte sich kalt an, sie merkte plötzlich, wie schwer ihre tropfende Kleidung war.“

Die zweite Ressource ist die anarchistische Fantasie von Kindern – ein Feld, das Dragomán auch in seinen düsteren Romanen Der weiße König (dt. 2012) und Der Scheiterhaufen (dt. 2015) durchmisst: „In eine kindliche Phantasie hinabzusinken, fällt mir leicht.“ Sie eröffnet Räume, die dem Erwachsenenblick vielleicht verschlossen sind: Möglichkeiten, Schwierigkeiten zu überwinden, Stöße abzufangen.

Jetzt sagt Dragomán den schwer pathosfrei übersetzbaren englischen Satz: „I am interested in freedom.“ Es ist eine Haltung. „Etwas, das man als Kind lernt. Kinder leben gewissermaßen in Diktaturen, vielleicht sogar notwendigerweise, sie werden erzogen. Sie können rebellieren. Phantasie ist eine Gegenreaktion.“ Ist das ein politischer Blick? Als Antwort ein leiser Satz, mit dem er Ungarn, Osteuropa,die EU überblickt – die Episoden im Band ziehen sich über den Kontinent: „Ich glaube, wir haben verlernt, wie man Widerstand leistet.“ Man kann jetzt an Gelbwesten denken, oder wieder an Das System und seine Feinde. Am Ende ahnt Erika, die für ein Buch über einen Bildhauer in die Stadt kam, schon die Gummiknüppel der Bereitschaftspolizei: „Man darf sich nicht, darf sich nicht, darf sich auf keinen Fall mit der Masse bewegen, schoss ihr durch den Kopf, Angst und Wut standen ihr wie Schweiß auf der Stirn, sie gab dem Koffer einen Fußtritt, wandte sich um und rannte mit den anderen, mitten auf der Allee, in Richtung des gedehnten, klagenden Gesangs, sie wusste, gleich würden sich ihre Lippen öffnen, gleich würde sie brüllen, zusammen mit der Masse, endlich würde auch sie alles herausbrüllen.“

Geschädigt, von Anfang an

Kurzprosa ist in Deutschland eher mittelbeliebt. Ganz gut also, dass der Löwenchor etwas milder daherkommt. Doch das bedeutet noch immer eine gleichgültige bis ruppige Welt, wo Stöße ausgeteilt werden, sich zerlumpte Alte eben nur für den Moment eines Liedes das Leben nicht noch schwerer machen. In der Kinderfantasie spiegelt sich Optimismus, sie hebt uns für einen Moment in die Lüfte , über die Realität hinaus. Gewalt und Gemeinheit treten nicht direkt auf, sondern als Ahnung, Klima und Dunst.

„Ich bin geschädigt von meinen ersten fünfzehn Lebensjahren“, György Dragomán sagt den Satz mehrfach, trocken, analytisch, nicht um des Effekts willen: Geboren 1973 in Târgu Mureș, das zwischendrin Neumarkt an der Miersch hieß, wo die wirklich finstere rumänische Variante des Realsozialismus Repression, Nationalismus, Niedertracht und schon bei Schülern Selbstbewaffnung bedeutete. Gewalt, erzählt er, sei normal, eine Form der Kommunikation gewesen. Im März 1990 brachen Unruhen in der Stadt aus, Hunderte Verletzte, sechs Tote, es ging um Rumänen, Ungarn, Erinnerungskultur, Identität. All das hatte Vorläufer. Der tote Diktator, sein wächsernes Gesicht auf dem Boden, namenlos, aber als Nicolae Ceaușescu zu erkennen, hat im Scheiterhaufen einen Auftritt, hallt im Löwenchor als Erinnerung nach.

Er selbst sah das im Fernsehen, schon in Ungarn, wohin die Familie auswandern konnte und wo er eine längere Weile brauchte, um sich aus dem Griff der rumänischen Disziplin zu lösen – in der Schule hatten sich Aufzeigen-Strammstehen-„Genosse Lehrer“-Rufe in seinen Körper eingebrannt. Ungarn: Jugend, Aufbruch; Dragomán erzählt von glücklichen Zeiten, „die Leute haben wirklich versucht, nett zu sein“. Das ging vorbei, das Klima wurde rauer: „Ich sehe heute, dass wir von denselben ethnisierten Gewalttaten eigentlich nur einen kleinen Schritt entfernt sind.“

Ein Kontinent der Missgunst

In der wunderbaren Novelle Puerta del Sol blickt der Protagonist auf Landkarten und den Umgang mit der Vergangenheit – in der zusammengefummelten Historie liegt in vielen europäischen, ausdrücklich osteuropäischen Ländern ein Quell schlechter Laune, Missgunst, dem Gefühl zu kurz zu kommen: „Er dachte an die Grenzen, daran, wie viele Grenzen sie überflogen hatten, und er schämte sich auch gleich, dass er schon wieder daran dachte, dass er wie seine Mutter ist, in der Vergangenheit lebt, nur weil sie in seiner Kindheit nicht reisen durften, müsste man nicht ständig daran denken, man sollte endlich darüber hinweg sein, ja, sie durften nicht reisen, weil sie keinen Pass bekommen durften, ja, er war in einer Diktatur aufgewachsen, ja, er hatte sich Atlanten angesehen wie andere in Märchenbüchern lesen, aber nun ist das vorbei, schon lange ist es vorbei, seit er zwanzig ist, hat er einen eigenen Pass, er kann gehen, wohin er will, wann er will, er ist ein freier Mensch, er sollte sich nicht ständig an das Gefängnis erinnern.“

Das zielt auf zersplitterte Gegenwart. Die Bruchstücke ruhen einen Moment, werden wieder durchgeschüttelt: Wie in einem Kaleidoskop reagieren immer neue Splitter aufeinander, ein flüchtiges Bild. Gewalt ist eine Konstante, der man vielleicht entgeht, wenn man sich permanent hinterfragt. Oder durch Musik: „Fereczi dachte an die beiden Musiker, die Melodie, die sie gespielt hatten, konnte er nicht wiedergeben, dennoch pulsierte sie in ihm, er schloss die Augen und dachte an das Sonnenlicht und daran, was die Alten sangen, dass einmal der Tag kommen wird, wenn alle Wunden geheilt sein werden und aller Schmerz vergangen.“

Info

Löwenchor. Novellen György Dragomán Timea Tankó (Übers.), Suhrkamp 2019, 269 S., 24 €

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