Bildbände von Bob Newman und Gordon Parks: Die Grammatik des Rassismus
Fotografie Ein Jahr nach der Ermordnung von Emmett Till porträtierte Gordon Parks in „Segregation Story“ den Süden der USA. Auch Bob Newman widmet sich der Region. Er spinnt das Porträt weiter bis in die Gegenwart und dem Tod von George Floyd
Am 20. August 1955 hält ein Zug auf dem Weg nach Süden in Cairo, Illinois. Emmett Till ist in Chicago aufgewachsen, nun will er die Grenze zu einer Welt übertreten, deren Regeln er kaum kennt. Er reist mit seinem Onkel und seinem Cousin, sie wollen die Verwandten in Money, Mississippi, besuchen. Cairo ist die südlichste Stadt von Illinois, Emmett Till muss umsteigen: Er ist schwarz, fährt weiter im Abteil für „Colored Race“.
Zu den Gesetzen der Segregation gehören im Süden oft ungenau markierte Codes, sie werden in den USA Jim Crow Laws genannt und gelten ab Cairo auch im Zug. Eine Woche später wird Emmett Till, 14 Jahre alt, von mehreren Männern aus Money entführt, gefoltert, schließlich erschossen und in den Fluss gew
Fluss geworfen: Angeblich war er Carolyn Bryant zu nahe gekommen, einer weißen Frau, die mit ihrem Mann gemeinsam Bryant’s Grocery & Meat Market führte.Auch wenn Emmett Till in den USA heute ein Symbol ist, wissen wir immer noch wenig über den Mord. Historiker vermuten, dass sieben Männer daran beteiligt waren, sie hängten ihn am Querbalken einer Scheune auf, so konnten sie ihn besser misshandeln. Roy Bryant, Carolyns Ehemann, und seinem Halbbruder J. W. Milam wurde der Prozess gemacht. Ihr Freispruch wurde ein Kulminationspunkt gärender Proteste gegen die Segregation.Schon Anfang März 1955 hatte sich Claudette Colvin in Montgomery, Alabama geweigert, ihren Sitzplatz in einem Bus für eine weiße Frau zu räumen – ihr Fall ist nur deshalb weniger bekannt, weil sie 15 Jahre alt, unverheiratet und schwanger war: Sie passte den Menschenrechts-Aktivisten nicht richtig ins Bild. Aber Colvin weigerte sich, ihre Strafe zu zahlen, zog mit drei weiteren Frauen bis vor den Supreme Court, der im Jahr darauf die Rassentrennung in Bussen aufhob. Zwischendrin, am 1. Dezember, folgte Rosa Parks ihrem Beispiel, auch sie blieb im Bus sitzen. „Ich habe an Emmett gedacht“, sagte sie später Mamie Till, Emmetts Mutter.67 Minuten für den FreispruchIn den vergangenen Jahren eröffneten einige Arbeiten über Emmett Till einen feinkörnigeren Blick in die Geschichte – außerdem gab Carolin Bryant zu, Belästigungen erfunden zu haben. Nun erzählt Bob Newman die Geschichte von Emmett Till und dessen langen Schatten bis in die Gegenwart als fotografische Recherche. Newman wählt einen doppelten Ansatz, trennt den Band in zwei Buchhälften: Links sammelt er historische Aufnahmen, Bilder aus Presse-Archiven, dokumentarische Abbilder der Lebensumstände des Südens in den 1950er-Jahren. Es ist eine schwarz-weiße Reise durch Armut, über Baumwollfelder, vorbei an Ku-Klux-Klan-Kreuzen, zusammengezimmerten Unterkünften. Die fröhlichen Aufnahmen von Emmett Till mit seinem neuen Hut stechen heraus. Viele Bilder spiegeln den Gerichtsprozess, bei dem die Geschworenen – alles weiße Männer – 67 Minuten für den Freispruch brauchten.Aber der Bogen reicht über Till und Civil-Rights-Proteste hinaus – zwei letzte Fotografien erinnern an George Floyd, der im Frühjahr 2020 unter einem Polizistenknie starb. Die rechte Buchseite sammelt Newmans eigene Aufnahmen aus fünf Jahren fotografischer Reise durch das Mississippi-Delta.Man kann immer wieder versuchen, das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft im Kapitalismus zu vermessen, ohne Theodor W. Adorno kommt man dabei nicht weit. Der formulierte, dass Kunst als „Gestalt von Erkenntnis“ funktioniere und gleichzeitig „den Begriff übersteigende Erkenntnisweise“ ermöglicht. Er mutete der Kunst ein komplexes Spiel, eine pendelnde Bewegung zu: Kunstwerke müssten gleichzeitig immer wieder den Abstand zwischen der gegenwärtigen Gesellschaft und der Utopie eines ganz Anderen ausloten. Betrachter*innen sind aufgefordert, sie als „gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft“ zu begreifen.Kunst und WareMit einigem Recht hatte Adorno nur sparsame Freude an engagierter Kunst – wenn die sich der Politik zuwendet, macht sie sich oft klein, verliert eine zweite Ebene: Viel politische Kunst rückt persönliche Befindlichkeiten in den Blick, wird mit konkreten Bezügen häufig zu Aktivismus. Wenn sich das lobenswerte Interesse zeigt, entzieht es dem Werk oft eine poetische Grammatik, die Kunst weit über den Tag, die reduzierte Aussage hinweghebt und zu einer quecksilbrigen Fähigkeit führen könnte: Mehrdeutigkeit.Die bedeutet Arbeit: Wenn Kunst mit den Antagonismen der Gesellschaft umgeht, kann man sie, so lautet Adornos Kerngedanke, nicht konsumieren, sondern nur anerkennen. Dafür muss man sich Zeichensysteme erarbeiten, in Kafkas Sprache die verwaltete Welt des Monopolkapitalismus erspüren, in den Stücken Becketts die Konzentrationslager des Nationalsozialismus. Als Publikum müssen wir vom „geschichtlichen Grauen unserer eigenen Epoche“ wissen. Das unterscheidet Kunst von der Ware, zeigt ihre Autonomie an.Placeholder image-1Auch wenn Adorno vom Massenmedium Fotografie nicht überzeugt war, kann man konkrete Abbilder einer schon abstrakt und fern geglaubten Vergangenheit als Antagonismen der Gegenwart lesen. Sie ermöglichen eine poetische Lesart, müssen nicht in flachen Gewässern von Eindeutigkeit auf Grund laufen. Nur verwischt Bob Newmans Dramaturgie der Archivrecherche mit den Bildern, die an George Floyd erinnern. Hier verrutschen Kategorien: Der zeitgenössische Blick auf Emmett Till, die Lebensumstände im Süden der USA werden plötzlich einem groben Raster untergeordnet. Floyd wurde von Polizisten in Minneapolis erstickt.Newmans eigene Aufnahmen im Mississippi-Delta bereisen die geschichtlichen Orte des Grauens: Es ist eine geduldige Studie einer Gegend, in der die Zeit langsamer zu vergehen scheint. Der Bundesstaat hatte schon 1955 die höchste Elendsrate – heute leben 19,4 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, noch immer der höchste Wert des Landes. Die Aufnahmen sind gut komponiert, wirken aber fast harmlos: Bodennebel, Kirchenbauten, Newman rückt Rituale, Kinderspiel, Stagnation und Ausweglosigkeit ins Bild, dürftig eingerichtete Häuser, Ruinen von Industrie und Bryant’s Laden.Ein zweiter Bildband, eine erweiterte Wiederauflage, leuchtet Wurzeln der Civil-Rights-Proteste aus: Gordon Parks’ Segregation Story ist ein konzentrierter Blick auf den Nachbarstaat Alabama aus dem Jahr 1956. Parks begleitet Mr und Mrs Albert Thornton, einige ihrer neun Kinder und 19 Enkel für eine Fotostrecke im Life Magazine – auch Alabama ist bitterarm. Die Segregation Story schaut auf Feldarbeit, Shotgun Houses aus zusammengenagelten Brettern. Zugleich aber sind es uneindeutige Bilder: Stolz spielt eine Rolle, Würde inmitten all der Umstände. Parks eröffnet die Strecke mit einem Porträt der Thorntons. Sie lehnen sich auf dem roten Brokat ihres Sofas zurück, über sich ein gemaltes Hochzeitsbild: Hier sitzen festlich gekleidet Partriarch und Matriarchin einer großen Familie, der Gesichtsausdruck bei geradem Blick in die Kamera schwankt zwischen „halb amüsiert“ und „entschlossen“.Gordon Parks beobachtet Würde in menschenfeindlichem Kontext: In einem ikonischen Bild stehen eine junge Frau und ihre Tochter, festlich in Chiffon gekleidet, mit geputzten Schuhen unter einer Leuchtreklame. Von vielen Arbeiten William Egglestons wissen wir, dass Leuchtreklamen Vorboten der Moderne waren, die langsam in den Süden vorrückten – Parks fängt Mutter und Tochter unter einem abwärtsgeschwungenen Pfeil ein, er wird aufgetrennt von großen Lettern: „Colored Entrance“.Trump lag komfortabel vornDie Aufnahmen bebildern einen journalistischen Essay mit dem Titel The Restraints: Open and Hidden – es geht um „Beschränkungen“, mit denen Afroamerikaner im Jahr nach Emmett Tills grausamem Tod im Süden umgehen mussten. Parks wählt Farbe für seine Bilder, setzt sich von der Fotografie ab, die in den Jahrzehnten zuvor soziale Verheerungen der Great Depression schwarz-weiß dokumentierte.Seine Aufnahmen besichtigen ungeteerte Straßen unter ausgreifenden Baumkronen, Regen verwandelt sie rasch in Matschpisten. In kargen Innenräumen müssen Betten viele Menschen beherbergen, akkurat gekleidete Mädchen spielen in tiefen Pfützen, Parks folgt Kirchenfestlichkeit und Beerdigungstrauer. Er ist selbst Afroamerikaner, kennt diese Welt, nimmt teil an ihr.Er fertigt keine offensichtlichen, kampagnenfähigen Aufnahmen für das Civil-Rights-Movement aus dem Heimatstaat von Claudette Colvin und Rosa Parks an – aber wir sehen die Ernsthaftigkeit, die viele Kindergesichter markiert, Ödeme an ihren Beinen, harte Arbeit hat sich in ihre Körper eingeschrieben. Beiläufig weisen Schilder an Eisdielen, an Haltestellen für Überlandbusse, Trinkfontänen den „Colored“ ihren Platz zu. Die Aufnahmen aus dem Jahr, in dem der Supreme Court Afroamerikanern Rechte zusicherte, sind ein Blick auf ein gesellschaftliches Gewebe, das ihnen Gleichberechtigung noch lange nicht zugestehen will.Und damit sind wir beim Kontext, der Pendelbewegung, mit der Kunst eine Gesellschaft und ein utopisches Anderes neu vermisst: Wer die Bände durcharbeitet, Aufnahmen auf ihre Zeichen hin abtastet, tut das, während die Republikaner wieder die Mehrheit im Parlament errungen haben. Donald Trump begründete seine erneute Präsidentschaftskandidatur damit, dass er Amerika glorious again machen wolle. Wen diese Begriffe irritieren, der kann bei Parks und Newman feststellen, wie tief sich die Grammatik des Rassismus, Abscheu vor Armut und Elend, die existenzielle Angst vor Statusverlust in das soziale Gewebe der US-Gesellschaft eingesenkt haben. In Alabama und Mississippi gewann er mit komfortablem Vorsprung gegen Hillary Clinton und Joe Biden.
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