Es ist zwar ein utopischer Gedanke, aber es wäre schon interessant, wenn Wolfgang Schäuble und Angela Merkel jetzt hier am Tisch sitzen würden. Man kann am Kypseli-Platz in Athen einen griechischen Salat essen, kostet 4,40 Euro. Viele Menschen rund um den Kypseli-Platz können sich den Salat aber gerade nicht leisten. Merkel und Schäuble könnten hier aber etwas lernen. Von Rula zum Beispiel, die mit bemerkenswert gutem Englisch ausruft: „Wir sind Europa! Wir wollen Europa! Wir gehören zum Zentrum Europas!“
Rula ist 69 Jahre alt, ihr Vater kam aus Ägypten in die griechische Heimat, um im Krieg gegen die Deutschen zu kämpfen. Jetzt bekommt sie gut 1.100 Euro als monatliche Rente. Eigentlich genug für ein einfaches Leben hier im Stadtteil Kypseli, etwas ab vom Zentrum von Athen. Sie braucht nicht viel, heute morgen trägt sie ein altes T-Shirt, die rissigen Sportschuhe hat sie von einem Enkel übernommen, sie müssen eine Weile halten. Mit ihrer Rente unterstützt sie große Teile der Familie. Die, die noch Arbeit haben, verdienen mindestens ein Drittel weniger als zuvor und deshalb kommt auch Rula nur noch knapp über die Runden. Die Woche war sie noch einmal beim Arzt. Auf dem Rücken, am Bauch: Hautausschläge, Pflaster. „Stress“, sagt sie, vor allem jetzt, wegen des Referendums.
Es ist der europäische Stress, witzelt sie zusammen mit Panagotis, einem Bekannten. Der Stress, heute Grieche in Europa zu sein. Der Stress, aus einem Land zu kommen, in dem die Armutsquote schon immer eine der höchsten war in der EU. Und der Stress, Gast in diesem Café zu sein, denn irgendwie ist der Kellner abhanden gekommen. Das hindert Panagotis aber nicht, nach weiteren Wortspielen zu suchen. Nebenbei zeigt er auf sein linkes Augenlid, seit Wochen zuckt es in seinem Gesicht, mal am linken Auge, mal in der Braue. Panagotis ist 51 Jahre alt, Buchhalter bei den staatlichen Elektrizitätswerken, er hat Familie, verdient jetzt 1.300 Euro im Monat, die Hälfte seines früheren Gehalts.
Wo Rula einen euphorisch am Arm nimmt, wo sie aufschreit und lacht, wechselt Panagotis das Thema, wird still. Er erzählt lieber über die alten Wasserquellen, die von hier die Stadt Athen versorgten, davon, dass in dem Viertel sehr früh Apartmenthäuser gebaut wurden, es sehr dicht besiedelt ist, vielleicht der am dichtesten besiedelte Ort Europas. Vor 30 Jahren zogen Studenten her und Künstler, heute sind höchstens Lebenskünstler geblieben, viele Einwanderer aus Afrika. Viele Nachbarn sind in den Wohnungen alt geworden, beziehen Rente. Statistisch ist Griechenland die älteste Gesellschaft der EU-Länder, mehr als 20 Prozent der Bevölkerung sind älter als 65 Jahre.
In Kypseli wohnt die untere Mittelschicht, die meisten Läden im Viertel sind leer und staubig. Es gibt einige talentierte Graffiti-Künstler in Athen und sehr viele sehr untalentierte. Die üben allerdings eifrig, auch in Kypseli. Im Viertel hält man zum Fußballverein AEK, eine schöne Metapher: Der Club ging 2013 pleite, nach dem Zwangsabstieg schaffte er den Durchmarsch zurück in die erste Liga. Er hörte nie auf, Fußball zu spielen.
Tsipras hatte keine Alternative
Wir sitzen an einem wackeligen, kleinen Tisch, in einem Café mit dem seltsamen Namen Topos Kosmiko – Kosmischer Platz. Man blickt von der Ecke auf den kleinen, irgendwie schmutzigen Kypseli-Platz, kann einen der drei Bankautomaten am Platz sehen, also eine der drei Schlangen. Menschen stehen schweigend an, morgens, abends und nachts. Eine seltsame, angespannte Stille umgibt sie. Wenn sie das Geld aus dem Automaten gezogen haben, ist es fast so, als würden sie sich ducken, sie laufen dann zu einem Auto oder einem Motorrad, fahren schnell weg. „Es ist“, sagt Panagotis, der Buchhalter, „als nähme man dir einen Teil deiner Persönlichkeit, deiner Souveränität. Du stehst da und kalkulierst, was du bezahlen kannst, rechnest immer wieder nach, es fühlt sich an, als würdest du unter einer Art väterlicher Aufsicht stehen. Dir sagt jemand, wie viel Geld du abheben darfst. Und stell dir vor, es ist ja dein Geld, du hast dafür gearbeitet und gespart.“
Es ist einer der wenigen Momente, in denen man merkt, dass etwas in ihm brodelt. Er und Rula sind gerade aus einem Wahllokal gekommen, sie haben gegen die Sparauflagen gestimmt und damit auch indirekt für eine Regierung, die sie nicht gewählt haben. Das Wahllokal ist sonst eine Schule, Panagotis’ Sohn ging hier zum Unterricht, jetzt hat Ministerpräsident Alexis Tsipras dort gewählt. Tsipras wohnt auch hier in Kypseli. In der Schule hat das einen Riesenbohei mit unzähligen Journalisten gegeben und nachher ist Tsipras im Foyer, dessen karge Wände bemalt und beklebt sind und doch blass und abgeschabt wirken, auf zwei übereinandergestapelte Paletten gestiegen. Er hat etwas von Demokratie und Würde gesagt.
„Ein Schwätzer!“ Panos ärgert sich und wenn er sich ärgert, redet er noch schneller als sonst. Mit Syriza kann er nichts anfangen. Panos ist 44 Jahre alt, hat ein Catering-Unternehmen, richtet Veranstaltungen aus, ihn interessieren Start-ups. Seine Regierung ist ihm peinlich. „Wie kann man solch einen Ton anschlagen. So sind wir Griechen nicht.“ Hinter Tsipras sieht er eine alte Ideologie und er sieht Manieren, die ihn wütend machen. Seine zehn Jahre ältere Geschäftspartnerin Maria nickt. Aus ihrer Studienzeit kenne sie viele aus der Syriza-Regierung, erzählt sie. „Du warst bei den Kommunisten, deshalb“, sagt Panos. Maria zuckt ein wenig. Vielleicht weil das derb klang, vielleicht weil sie Zahnschmerzen hat. Der Stress.
Panos ist gut vernetzt in der Stadt. Ein paar Tage zuvor trafen wir uns im Royal Olympic, einem dieser sauberen, sandfarbenen Hotels in der Stadt, voller reicher Touristen, Lobbyisten und Funktionäre abgewählter Regierungen. Panos hat davon erzählt, dass unter der neuen Regierung alles wie vorher sei, Posten würden geschaffen, Positionen vermittelt. Er und Maria haben beim Referendum mit Ja gestimmt. Das sei die einzige „objektive Wahlmöglichkeit“, sie wollten schließlich in der EU bleiben, sagt Panos. „Glauben Sie, dass die Menschen verstanden haben, über was sie da abstimmen?“
Wenn man mit dieser Frage politischen Beratern der Regierung gegenübersitzt und sie auch noch fragt, was denn das für eine Abstimmung sei, mit der sehr verklausulierten Frage, ob man für oder gegen ein Angebot der Geldgeber sei, zu einem Zeitpunkt, da die Frist für das Kreditprogramm abgelaufen ist, kann es sein, dass diese Berater überraschend gelassen lachen. Sie erklären, dass es der Regierung um „Legitimität“ für „weitere Verhandlungen“ ging. Wenn man fragt, ob die Abstimmung notwendig wurde, weil die Regierung die Vorschläge der Eurogruppe in der eigenen Fraktion nicht durchbekommen hätte, sagt zum Beispiel Theodoros Paraskevopolous: „Der Vorschlag der Eurogruppe wäre vielleicht sogar durchgekommen, aber mit den Stimmen der Opposition. Er wäre nicht vom Kabinett, der Syriza-Fraktion oder der Partei angenommen worden. Weil es eine zu starke Abweichung von ihrem Programm ist.“ Tsipras blieb in Brüssel keine Alternative.
Der vorherige Ministerpräsident Antonis Samaras von der konservativen Nea Dimokratia hatte eine Vereinbarung akzeptiert, nach der etwa 90 Prozent der öffentlichen „Hilfsgelder“ dafür verwendet wurden, private Kreditgeber herauszukaufen. Nachdem Tsipras das Referendum ankündigte, nannte Samaras ihn „schwach“. Als die Opposition das Referendum nicht gewann, trat Samaras noch in der Nacht als Parteichef zurück.
Rula sagt, dass sie über ihre Würde abgestimmt habe. Darüber, dass den Griechen die Rente gekürzt, die Mehrwertsteuern erhöht würden, ohne dass dies Sinn ergebe. „Wir wissen alle, dass diese ganze Misere unsere Schuld ist. Wir haben die falschen Leute gewählt und die haben in ihre Taschen gewirtschaftet. Wir haben gehofft, davonzukommen und müssen dafür jetzt bezahlen. Ich bekomme mehr Rente als der Durchschnitt, da können sie meinetwegen etwas kürzen. Aber warum kommen Banken aus Deutschland, aus Großbritannien, aus Frankreich davon? Warum liegt das Geld der reichen Griechen auf Schweizer Konten und wird nicht angetastet?“ Panagotis nickt zu der Würde, sein Augenlid zuckt.
Der Ton der Deutschen
Zum Glück ist der Kellner wieder da, aufgeregt ist er, hat die Tasche einer alten Dame gefunden, 1.500 Euro seien darin gewesen. Vielleicht waren es auch 15.000, das kann jetzt niemand genau sagen, jedenfalls unglaublich viel Geld, das habe er der alten Frau bringen müssen. Zeit, in ein anderes Viertel zu fahren, mit dem Trolleybus: Omonia, Syntagma, die großen Plätze der Innenstadt, dann kommt das vornehme Viertel Kolonaki.
Man fährt und versteht: Die ärmere Bevölkerung, die Studenten, die Jungen wählen mit der Regierung. Das Nein ist die Wahl der Frustrierten, der Emotionen. Die Unternehmer, die Besitzenden stimmen anders, sie wollen sich mit den Geldgebern einigen, wollen Teil Europas bleiben. Dann treffe ich Constantinos: anfang 60, gestreiftes Oberhemd, fährt gerne nach Berlin oder Wien zur Oper. Constantinos ist Anwalt und Ökonom, er hat mit Nein gestimmt.
Constantinos erklärt, dass Misstrauen gegenüber dem Staat Teil der Geschichte Griechenlands sei, die Skepsis gegenüber der Ethik von Politikern Teil der politischen Kultur. „Traditionell hat das eigene politische Überleben in Griechenland die höchste Priorität. Die Regierung Tsipras ist die erste, die ihr Überleben mit der Sache verbindet.“
Das hat auch viele Menschen im Stadtteil Kolonaki beeindruckt. Sie sprechen weniger von Würde, schauen skeptischer auf Manieren, die lächelnde Selbstgewissheit von Yanis Varoufakis ist vielen suspekt. Trotzdem hätten sich nicht wenige seiner Freunde um die Wochenmitte umentschieden, erzählt Constantinos. Weil sie die Kürzungsvorschläge nicht akzeptieren könnten, weil ihnen klar sei, dass „die Menschen unter den Maßnahmen leiden und nichts besser werden wird“. Vor allem machte sich immer mehr das Gefühl breit, dass es Merkel und Schäuble darum ging, eine gewählte Regierung zu diskreditieren. „Das ist ein ideologischer Kampf. Auf unserem Rücken.“
Merkel und Schäuble also, wo man auch nachfragt, bei Lobbyverbänden von Unternehmern oder entschiedenen Befürwortern des Referendums, bei Priestern oder Kommunisten: Alleine der Ton aus Berlin, der Verdacht, dass Kanzlerin und Finanzminister ihnen etwas vorschreiben wollten, ist überall bitter aufgestoßen. Das letzte Mal, dass in Griechenland die Banken schließen mussten, war 1941. Die Griechen blicken nach Deutschland, auch wenn Kapitalverkehrskontrollen von der Europäischen Zentralbank und dem eigenen Parlament beschlossen wurden.
Nur das Nein, hatte Constantinos gesagt, sei die rationale Wahl. „Denn so geht es nicht weiter.“ Nur das Ja, hatte Panos gesagt, sei die rationale Wahl. „Denn nur so gehen Verhandlungen weiter.“ Das Volk hat entschieden, nun sind wieder die Politiker an der Reihe.
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