Vom Mann, der wohl 151 Transportkisten mit etwa 51.480 getrockneten und gepressten Pflanzen, auch lebenden Pflanzen, Gesteinsproben, Hölzern, hunderten präparierten Tieren, Geräten und Waffen von indigenen Stämmen und sogar Schädeln zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus Brasilien nach Berlin schickte, gibt es kein Bild. Kein Porträt, keine Skizze. Es gibt einige Informationen über den Lebensweg und die Familie, vor allem aber eben Berge von Material, die er nach Europa sandte. Seit dem Frühjahr 1814 in Brasilien, sammelte er zunächst um Reisekosten wieder einzuspielen, schließlich im Auftrag Preußens, bis er am 4. Oktober, 41-jährig, zum Baden in den Rio Doce stieg.
Ob tatsächlich beim Bad oder beim Vermessen des Flusssystems kon
ystems konnte nicht genau festgestellt werden, jedenfalls aber kam Friedrich Sellow vom Leben zum Tode und ward damit um eine große wissenschaftliche Karriere gebracht. Karriere und Bedeutung sollten auf seiner Sammlertätigkeit fußen, allerdings: „Auf bleibenden Ruhm in der Wissenschaft kann nur hoffen, wer auch die Früchte seiner Arbeit in eine neue Ordnung überführen kann“, stellen Hanns Zischler, Sabine Hackethal und Carsten Eckert als Herausgeber des Bandes Die Erkundung Brasiliens: Friedrich Sellows unvollendete Reise fest. Über ein Dutzend Aufsätze umkreisen Sellow, seine berufliche Sozialisation als Gärtner in Potsdam, Paris und London, seine Förderer (vor allem Alexander von Humboldt, Georg Heinrich von Langsdorff) und Freunde (der Legationssekretär Preußens am portugiesischen Hof in Rio de Janeiro, Ignaz von Olfers), seine Reisen, Sammlungen, Skizzen und Aufzeichnungen. Immerhin, trotz einiger Wirren um seine Sendungen (verstreute Adressaten, fehlende Packlisten) und schließlich schwerer Kriegsschäden: Noch heute finden sich umfangreiche Belege seiner Sammelwut, „in nicht weniger als 40 verschiedenen Herbarien auf drei Kontinenten“.In die anatomische Sammlung der Berliner Universität schickte Sellow Schädel brasilianischer Ureinwohner, wohl einige hundert Pflanzen tragen seinen Artepitheton, also einen Beinamen, der den Entdecker anzeigt. Einem größeren Publikum ist Sellow dennoch unbekannt. Zu Lebzeiten ist nur eine Veröffentlichung vermerkt, ob Sellow selbst davon erfuhr, ist fraglich: Er befand sich auf Expedition.Hunderte präparierte TiereBrasilien war zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein vom portugiesischen Kolonialherrn verschlossenes und wissenschaftlich unerforschtes Gebiet. Um 1700 von Goldfunden aufgeschreckt, fand sich die Krone ungenügend darauf vorbereitet, Kontrolle über Regionen zu bewahren, in die nun Siedler, Kaufleute und Glückssucher drängten. In Stefan Zweigs gerade vom Insel Verlag neu aufgelegter, längst klassischer Monografie Brasilien. Ein Land der Zukunft finden sich lebhafte Beschreibungen der schon bald wieder verlassenen oder neugebauten Städte in Minas Gerais, in denen Anfang des 18. Jahrhunderts allein mehr Gold gewonnen wurde „als in ganz Amerika einschließlich des viel berühmteren Mexiko und Peru“. In der Folge verschärfte Portugal die restriktive Politik gegenüber Fremden, die nach Brasilien einreisen wollten. Sogar Alexander von Humboldt machte im Mai 1800 am oberen Rio Negro kehrt und wagte sich nicht über die Grenze. Erst mit der Übersiedlung des portugiesischen Hofes 1807/1808 schlug die Krone einen neuen Kurs ein, öffnete das Land für eine wirtschaftliche und naturkundliche Erschließung.Angestachelt vom Ehrgeiz die Welt zoologisch zu inventarisieren, schließlich auch mit Auftrag des königlichen Herbariums zu Berlin und mit finanzieller Unterstützung Preußens, verbrachte Sellow 17 Jahre in Brasilien. Andere Forscher berichteten blumig über Freud und Leid, Sellows Aufzeichnungen sind eher monochrom. Hanns Zischler beschreibt, ihm sei sein „Schicksal, seinem preußischen Vaterland und der Wissenschaft gleichermaßen zu dienen (...) zur zweiten Natur geworden“.Von den Monate währenden Reisen brachte Sellow denn auch nüchterne Schilderungen mit, die die Herausgeber in einem glücklichen Griff erstmals veröffentlichen. So sind Beschreibungen der harten, von Sklaven verrichteten Arbeit in der Goldwäscherei erhalten, die Sellow Ende November 1825 bei einer Reise von Porto Alegre nach Montevideo beobachtete; ein Jahr später nervte ihn das Protokoll bei Besuchen in ehemaligen Jesuiten-Reduktionen. Wann immer Frauen Arbeiten in den Reduktionen erledigten, spielten Musiker auf: „Den ganzen Tag über hatte ich die Musik des Bärentanzes zu erdulden. Drei Jungen, ein Pfeifer und zwei Trommelschläger waren auf der Terrasse vor meinem Hinterfenster aufgestellt und lärmten unablässig, während eine Anzahl Weiber im Garten des Collegiums ein Stück Land reinigten. Jedes Geschäft wird unter Trommelschlag und Pfeiferei verrichtet.“Der schön gestaltete Band schließt fraglos eine Lücke, auch wenn mit Friedrich Sellow eine etwas anämische Gestalt im Zentrum steht. Eckdaten zum Protagonisten tauchen öfter doppelt auf, was aber nicht von den faszinierenden zeitgenössischen Zeichnungen und Kupferstichen ablenkt. Und wem Sellows nüchterne Klage über Stechfliegen nicht genügt, kann bei Humboldt weiterlesen, oder eben bei Stefan Zweig, der andächtig über den brasilianischen Wald schrieb, durch den auch der reißende Rio Doce fließt.