Dünne Suppe

Literatur „Gogols Disko“ von Paavo Matsin ist ein Potpourri aus Ideen und Episoden. Eine Warnung
Ausgabe 09/2021
Die estnische Flagge weht auf dem Parlament in Tallinn
Die estnische Flagge weht auf dem Parlament in Tallinn

Foto: Raigo Pajula/AFP/Getty Images

Literaturkritik heißt auch Bücher zu lesen, damit sie sonst niemand lesen muss. Das ist in etwa der Ertrag, wenn man mit Gogols Disko, erschienen im Erlanger Verlag Homunculus, durch ist – dem dritten Roman des estnischen Schriftstellers Paavo Matsin. Immerhin hat Matsin dafür 2016 einen von rund einem Dutzend jährlichen Auszeichnungen des „Literaturpreises der Europäischen Union“ bekommen. Der Preis ist eine kuriose Konstruktion – nationale Kommissionen prämieren unter dem Dach der EU unbekanntere Autor*innen, das Ganze wird koordiniert von einem Zusammenschluss der europäischen Buchhandels-Föderation, der Föderation Europäischer Verlage und des European Writers Council. Auch das ein Zusammenschluss von nationalen Zusammenschlüssen. Alles in allem: ein Titel mit breitem Klang und dem strengen Beigeschmack, dass hier eher die dritte als die zweite Reihe ins Licht geschoben werden soll.

Große Überschrift, dünne Suppe: gute Überleitung zu Gogols Disko. Der Roman spielt in der südestnischen Kleinstadt Viljandi, die bei Matsin zum neuen russischen Zarenreich gehört. Estnisch ist verboten, die EU kommt nur noch als verblichenes Zahlungsmittel vor, dafür taucht ein zombifizierter Nikolai Gogol in einer vage überschaubaren Schar von Figuren auf, die sich rings um ein Antiquariat, ein Stadtmuseum und das „örtliche Literaturlokal Roman“ bewegen. Gogol ist nicht nur halb lebendige Mumie und Titelfigur, von ihm will sich Matsin erzählerisches Brokat leihen, stört aber schon von Beginn an, etwa mit der breiten Personenbeschreibung eines Taschendiebes, dem er einen bunten Strauß Meinungen anklemmt – über Juden, die Taschendieberei („ein wahrer Dieb kooperiert nie mit der Macht“), gute und schlechte Veränderungen in der Stadt: „Nehmen wir zum Beispiel die bereits erwähnte Straßenbahn.“

Was so beginnt, hat mitunter den Klang einer sehr unkonzentrierten Sammlung von Ideen, Episoden, Stilen: Matsin, den sein Verlag „als eine der schillerndsten Künstlerpersönlichkeiten seines Heimatlandes“ bewirbt, stellt handelnde Figuren vor und entwertet sie sofort zu Karikaturen. Versucht zwischen ihnen ein Netz aus sexueller und ökonomischer Frustration, esoterischer Heilserwartung, Musik, Beatles-Manie und nicht wenig Geschlechter-Essenzialismus zu weben: Wenn man als Mann Pech hat, kaufen die Ljubas immer nur Kristall und lassen ihn kein Bild von John Lennon aufhängen; eine Katja ist „hell erleuchtet von der inneren Lampe weiblicher Verwunderung“. Schnell wird klar, wofür Gogol noch herhalten muss. Paavo Matsin beleiht ihn für die Deklaration seiner eigenen Absurdität. Darüber zerfranst der Roman: Immer wieder verliert die Erzählstimme den Faden und die Perspektive, wiederholt Beiläufiges so oft, dass es ziemlich penetrant wird. Wohin es nun mit wem gehen soll, ist oft unklar: Mal entscheidet sich die erlebte Rede für den Blick durch Natascha auf die Dinge, ein paar Zeilen weiter zerrt eine alte Museumswärterin sie hartnäckig fort. Matsin mag Adjektive, beschreibt gern, plötzlich und opulent, nur bleibt der Sinn ausgemalter Bilder ein Rätsel, überraschend ist dann eine Rezession im neuen Zarenreich „imperialistisch“, dass man erschrickt vor dem kühlen, kontextlosen Begriff.

Nur das Glossar stimmt

Dazu stehen ständig Informationen unnütz im Weg herum oder erdrücken die karge Handlung. Vor allem finden sich auf engem Raum derart viele schiefe Sprachbilder, dass man am Ende gar nicht mehr erinnert, wohin der ADHS-Rhythmus eigentlich wollte: Da bedeckt „allmorgendlich“ – also wohl auch im Sommer – eine „dünne Eisschicht die Pfützen von Erbrochenem und Urin“, später ist es im Raum „so leise, dass man das Fallen einer Stecknadel oder das Surren einer Nähmaschine hätte hören können“. Vielleicht sind Nähmaschinen im neuen Zarenreich selbst in stillen Räumen bemerkenswert leise – der Beatles-Eso-Gottesdienst will es unbedingt nicht sein. Am Ende ist das Glossar russischer Begriffe vielleicht das einzige handwerklich intakte Kapitel.

Info

Gogols Disko Paavo Matsin Maximilian Murmann (Übers.), Homunculus Verlag 2021, 173 S., 21 €

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