Sommer hin oder her – ein niedergeschlagenes Gefühl kann er nicht vertreiben. Überhaupt ist Depression, umflort von Hoffnungslosigkeit, ein Emblem der Spätmoderne. Gleich, ob sie sich als Abgehängtenpöbelei, Steigerungen im Rechtspopulismus oder -extremismus äußert; aus eklatanten Schwierigkeiten um bezahlbare Wohnungen, Kinderbetreuung, Lebensumfelder nährt, sogar im Mantel psychopathologischer Befunde daherkommt, oder schlicht aus der Erkenntnis, dass man mit dem „Mut zur Hoffnungslosigkeit“, der irgendwo zwischen Slavoj Žižek und Kevin Kühnert wachsen soll, doch nicht so richtig durch die Woche kommt. Die Glücksversprechen unserer Zeit sind blass und flüchtig, dabei allgegenwärtig. Sie werden vom „Verpassensdruck“ bedrängt, immer schneller getrieben von Bildern und Erzählungen, in denen sich andere erfolgreich selbst verwirklichen, gute Laune und Bikiniseeligkeit dokumentieren, vertwittern, verinstagramen.
Während hoffentlich auch am Bali-Strand mal schlechte Laune die Stimmung trübt, gedeihen Hoffnungslosigkeit und Depression auf der Rückseite eines alles überstrahlenden gesellschaftlichen Normativs: des persönlichen Glücks. Das wird nämlich, wie der Soziologe Andreas Reckwitz schreibt, stets „an die Volatilität des subjektiven Erlebens, zum anderen an die Beurteilung durch die Anderen auf unberechenbaren kulturellen Märkten (Arbeits-, Partnerschafts- und Freundschaftsmärkten) gebunden“.
Der Geist von Wilhelm Reich
Dadurch ist diese Rückseite recht groß geworden. Reckwitz hat in seiner Referenzarbeit zur Gegenwart, Die Gesellschaft der Singulariäten (Suhrkamp 2017), beobachtet, dass Selbstverwirklichung als erarbeitete Form des persönlichen Glücks einen entscheidenden Wandel durchmessen hat: „Erschien in der bürgerlichen und industriellen Moderne Selbstverwirklichung als gegenkulturelle Verheißung eines Ausbruchs aus dem Korsett gesellschaftlicher Zwänge, erweist sie sich nun, sobald sie zum dominanten, ihrerseits sozial erwarteten Modell der Lebensführung geworden ist, als Quelle von Defiziterfahrungen.“
Auf genau diesen Mechanismus und den Wandel der Glücksfantasien schaut der schwedische Soziologe Carl Cederström schon zum wiederholten Mal. Cederström ist gestählt durch Untersuchungen zu Selbsterfahrung und -optimierung und konzentriert sich auf eine Gesellschaft, in der sich Grundbedürfnisse leicht erfüllen lassen – auch weil die Industrieproduktion an immer schlechter bezahlte Ränder gedrängt wird.
Wandel der Ideen vom Glück, die Vorstellungen vom Selbst, soziokökonomische Transformationen: Das ist ein gehöriger Stapel dicker Bretter, die Cederström zu bohren hat, er tut das mit dem schmalen, interessant zu lesenden Bändchen Die Phantasie vom Glück.
„Denn das Glück folgt der Tätigkeit“, wusste Aristoteles, hatte damit allerdings keinen wie auch immer schlecht bezahlten Job vor Augen, sondern das flüchtige Glücksempfinden, das sich entweder bei der Erörterung philosophischer Themen oder auch beim Stillen von elementaren Bedürfnissen wie Hunger und Durst einstellen konnte. Glück in Tätigkeiten zu finden, ist heute Pflicht: nämlich beim Erwerb der Lebensgrundlage, also in der abhängigen Beschäftigung selbst noch fröhlich oder zumindest authentisch zu sein. Das ist ein dramaturgisch überraschender Bogen, vor allem, weil die persönliche Glücksfantasie eigentlich vor allem in den 1960er Jahren gegen paternalistische Nachkriegsinstitutionen von Staat und Gesellschaft, gegen Ausbeutung im Kapitalismus ins Feld getragen wurde. „Wie stark diese Werte damals auch gewesen sein mögen, inzwischen erscheinen sie neu verpackt als Unternehmensslogans und dienen dazu, Subjekten ihre eigene Ausbeutung schmackhaft zu machen.“ Wie konnte das passieren?
Cederström gräbt noch einmal Wilhelm Reich aus, der aus Freuds innerem Zirkel als Erster Glücksfantasie als „volle Orgasmusfähigkeit“ postulierte und so die Romantiker oder Transzendentalisten des vorvergangenen Jahrhunderts zusammenbrachte. Und der all das in einem kuriosen und für viele Hippies unbedingt zu besuchenden Orgon-Akkumulator bündelte: sexuelle Befreiung, kosmische Energie, zusammengerührt als ständige (sexuelle) Bedürfnisbefriedigung. Der Ertrag für die Reise der Glücksfantasien ist nicht unerheblich: Reich führt der Idee vom Glück das Streben nach Authentizität zu, erklärt, dass es erreichbar würde – durch individuelle Wahl, Eifer, Beschäftigung. Er befreite das Glück vom episodischen, ephemeren Charakter.
Nun trat eine ganze Lebensberatungsindustrie im Geiste Wilhelm Reichs auf den Plan. Seminarinstitute mischten Emanzipationsideen, Drogenexkursionen, Therapieformen mit Versprechungen, nach denen es im Inneren des Ichs eine konflikt- und damit opferfreie Zone gäbe. Diese zu erkunden, förderte einen subjektiven Selbst-Bezug: Das Unglück der Welt – von strukturellen Nachteilen bis zu Krankheiten und Schicksalsschlägen – konnte schlicht in den fabelhaften Bereich des Willens überantwortet werden. Cederström stellt fest, dass sich der harmonische Welt-Begriff notwendigerweise blind oder ignorant gegen Antagonismen einer warenproduzierenden Gesellschaft verhalten konnte: „Während der 1970er Jahre, als die Leute zu Schulungsprogrammen ... strömten, nahm die Glücksfantasie eine neue Bedeutung an. Reichs Beharren auf authentischem Selbstsein und sexueller Befreiung, die in den sechziger Jahren als radikale Ideen gegen staatliche Repression propagiert wurden, präsentierte sich nun als Weg zu persönlicher Freiheit und finanziellem Erfolg.“
Endstation Microdosing
Denn entlang der Krisen des fordistischen Wirtschaftsmodells entdeckten immer mehr Manager den Reiz in der Lebensberatungsindustrie, die sich heute mit Meditationskursen und Begriffen wie „Achtsamkeit“ fortschreibt. Die Manager jedenfalls gemeindeten sie in das Arbeitsumfeld ein, damit ihre Angestellten, oder auch nur prekär Beschäftigte, weniger die stachelige Realität der Ausbeutung, umso mehr aber eine mit Ansprüchen wie Selbstverwirklichung und Authentizität flauschig verhängte Atmosphäre spüren sollten. Es geht um Identifikation: eine entscheidende Ressource, um die Glücksfantasie entlang der Erwerbsarbeit und eben nicht mehr gegen sie zu munitionieren. Cederström überblickt das an manchen Stellen eher, als dass er tiefer analysiert, beschreibt aber, wie das Dauerfeuer der „Ich kann das“-Ermutigungsversprechen der Kultur- und Seminarindustrie mit immer schärferem Wettbewerb zwischen Individuen korrespondiert. Und wie diese sich als „erzwungene Narzissten“ darstellen und positionieren müssen. Der Mythos der Leistungsgesellschaft wird von allen Seiten gleichermaßen in die Glücksfantasie tätowiert – das Glück müssen wir uns längst erarbeiten, sein Fernbleiben ist unsere Schuld.
Die Phantasie vom Glück ist ein kurzes Buch, dessen hintere Abschnitte immer dünner zu werden scheinen. Cederström arbeitet sich geduldig durch die Genese der Glücksversprechen, ihre Transformationen in den 1970ern und den Umstand, dass sie über Seminare, Fernsehprediger, Oprah Winfrey oder auch digitale Start-ups anschlussfähig wurden. Aber schon in den 1980er Jahren werden die Kapitel luftiger, bis wir lernen, dass ein Glücksdiskurs, der Halluzinogene als Gegenwelten zum Produktivitätsbegriff ausprobierte, irgendwann beim leistungssteigernden Micro-LSD-Gebrauch kalifornischer oder finnischer Cryptocurrency-Programmierer herauskommt.
Wie sich allerdings eine feministische Glücksfantasie gegen den überhaupt phallisch konnotierten Begriff vom Glück entwickeln soll, umreißt Cederström nur noch vage als Hoffnung und Ausblick. Könnte daran liegen, dass er die Analyse der Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus nur punktuell gegen die der Transformation der Glücksfantasie stellt. Gerade die ästhetische Ökonomie aber hat zum neuen Geist des Kapitalismus auch die stete Produktion der Bedürfnisse und Begierden hinzugefügt und den Wertbegriff der Inszenierung etabliert. Anders als schlichte Genüsse der Epikureer, oder gar Grundanforderungen menschlicher Existenz, werden sie nie gestillt. Ästhetische Begierden verkürzen den Zeithorizont der Befriedigung (in der dann die Glücksfantasie liegt) und stärken ein Frusterlebnis, je mehr wir uns ihnen zuwenden. In unserem Unglück, unserer Depression steckt heute das größte wirtschaftliche Wachstumspotenzial.
Info
Die Phantasie vom Glück Carl Cederström Norbert Hofmann (Übers.), Edition Tiamat 2019, 182 S., 18 €
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