Das Meer war ein paar Wochen lang zu sehen, jetzt ist es verschwunden. Man kann die Möwen hören, wenn gerade niemand hämmert, sägt, Bolzen einschlägt, Verpackungen aufreißt. Wenn kein Kran wimmert. Man kann auf dem langen Balkon stehen, Malagastraße 3, vierte Etage, an der Brüstung, und der Seewind teilt einem Geräusche zu. Der Wind ist immer da, er kommt übers Meer, Jätkäsaari ist eine Insel, kanalbreit vor Helsinki gelegen – hier wächst jetzt aus grauen Betonplatten der nächste Rohbau.
Die Malagastraße liegt in einer der größten Baustellen Europas, 20 Prozent aller Wohnungen Helsinkis werden hier auf einen Schlag gebaut. An einem späten Nachmittag laufen drei Frauen mit einer Torte zwischen Roh
ischen Rohbauten umher. Der Wind greift nach ihnen, die Straßen sind ungeordnet, ungeteert, unter den Absätzen der Frauen rollt grober Split. Dort vorn ist noch Grube.In Jätkäsaari sollen bald dreißigtausend Menschen leben, viele auch hier arbeiten, Kinder sollen zur Schule gehen können, ohne eine Straßenkreuzung überqueren zu müssen, nur, indem sie durch Parks und über Fußgängerbrücken laufen. Dabei war Jätkäsaari bis vor knapp zehn Jahren ein Containerterminal am Westhafen der Stadt. Nach seinem Umzug blieb eine betonierte Fläche. Der Traum eines Stadtplaners, sogar Hügel und Erhebungen konnten sie erst auf Karten eintragen und dann mit dem gewaltigen Abraum aus der U-Bahn-Erweiterung aufschichten.Wenn man einen begeisterten Stadtplaner treffen will, muss man bei Matti Kaijansinkko vorbeischauen. Stadtplanungsamt, sechste Etage. Matti Kaijansinkko ist der oberste Projektmanager, offener Hemdkragen, fröhliche Miene, silbernes Brillengestell, er breitet die Arme aus: „Bitte benutzt Farben! Das war eine der wenigen Anweisungen an die Architekten“, erzählt Kaijansinkko. Sie hatten sich neue Stadtviertel angeschaut, in London fanden sie schwarze Ziegelsteine – so etwas gab es in Finnland nicht. Aber dann bat Kaijansinkko die Architekten um mehr Farben, unterschiedliche Materialien und Formen. Ein weiterer Grundgedanke: „Wir wollten uns Jätkäsaari als Verlängerung eines Boulevards vorstellen.“Autos? An den Rand gedrängtIn der Baugeschichte Helsinkis kann man historische Entwicklungen in Stadtvierteln nachvollziehen: Holz wich Stein, der Klassizismus des 19. Jahrhunderts und der finnische Jugendstil wuchsen in den besseren Nachbarschaften. Die sparsamen Bauformen der Moderne fingen in Arbeitervierteln wie Kallio den Wohnraumbedarf hinter nüchternen Fassaden ein, Mittelschichtsnachbarschaften wie Töölö schmückten die Außenwände mit minimalistisch verzierten, schon mal bis zum Fassadenabschluss gerundeten Balkonen. Über allem dominieren Grautöne. In den Nachkriegsjahren kehrten die Finnen der Stadt den Rücken zu, auch hier wurde das Automobil eine Verbindung zum Häuschen auf dem Land. In der Stadt blieb die Zurückhaltung und Traufhöhe. All das ist in Jätkäsaari über Bord geworfen.Es gibt tatsächlich schwarze Ziegelwände, graue Ziegelwände, hellbraune und weiße Ziegelwände. Es gibt Sichtbeton und Wellblech. An der Stelle, die vom feuchten Seewind am weitesten abgewandt ist, entsteht ein Block aus Holz. Dächer schließen flach ab oder neigen sich zum Pult, es gibt Gauben, Galerien, Dachterrassen, bodentiefe Fenster. Die eingehängte Ziegelfassade ist schon selbst der ganze Schmuck, man sieht kaum Fensterstürze, wenig Zierrat, dafür schlichte Erker aus Glas, um mehr Licht nach innen zu leiten. An manche Farben muss man sich gewöhnen, Kaijansinkko zuckt mit den Schultern. Vor ein paar Wochen wurden Brücken eingehängt, sie sollen Fahrräder und Fußgänger führen, wuchtiges Eisen unterstreicht die Körperlichkeit ihrer Statik. Die Brücken sind leuchtend orange lackiert. Matti Kaijansinkko grinst: „Wir mussten uns öffnen. Wir wollten Dinge ausprobieren. Aber die Ideen der Gebäude sind der finnischen Tradition eng verbunden.“ Er meint praktische Innenräume, funktionale Wohnungen, Platz für Gemeinschaft: Die Häuser haben auf den Etagen Saunas, es gibt Waschkeller und Kulturräume.Und doch stehe Jätkäsaari gegen ein Prinzip der finnischen Architektur: „Die älteren Architekten, ausschließlich Männer, verstehen das Viertel überhaupt nicht. Der Bezug zur urbanen Architektur, also der Umstand, dass Menschen in den Zentren der Städte wohnen wollen, ist sehr jung. So ein dichtes Stadtviertel zu bauen, bei dem wir das Auto an den Rand drängen, ist sogar noch jünger.“ Man kann das in dem provisorischen, geflickten Asphalt erahnen – die Fahrbahnen sind schmal, Schienen für drei Straßenbahnlinien nehmen mehr Raum ein. Wohnort und Stadtplanung sorgen dafür, listet Kaijansinkko auf, dass etwa 2,5 Millionen Autokilometer im Jahr gespart würden, weil jetzt Familien aus äußeren Vororten nach Jätkäsaari kämen, weil man mit dem Rad schneller in der Innenstadt ist. Und der Gemeinschaftsgedanke denkt weiter als nur bis zu Kulturräumen: Einundsiebzig Prozent der Wohnungen gehören der Stadt Helsinki, die Mieten zielen vor allem auf mittlere Einkommen, auch für Geringverdiener und Sozialhilfeempfänger gibt es eine Heimat. Es werden öffentliche Wohnheime für Studenten gebaut, Wohnformen jenseits der klassischen Kleinfamilie entworfen, Alterswohngemeinschaften, Patchworkensembles, Mehrgenerationendomizile, Alternativen zum Wohnschachtelprinzip. „Ich glaube es hat einen gewaltigen Unterschied gemacht, dass hier viel mehr Architektinnen gearbeitet haben. Die haben einen viel weiteren Begriff des Praktischen eingebracht“, erzählt Kaijansinkko. „Sie hörten anders zu.“Das Nebeneinander sozialer Mieten und denen, die sich am realen Wohnungsmarkt von Helsinki orientieren, funktioniert – weil die Stadt eben Planung und Investition zum Großteil selbst übernimmt. Die Wohnungen gehören zu 71 Prozent der Stadt Helsinki, nur 40 Prozent aller Wohnungen kommen auf den freien Markt, 60 Prozent werden von der Stadt vergeben und vermietet. Ein Viertel aller Wohnungen wird subventioniert. Da wohnen dann Studierende, Sozialhilfeempfänger, Handwerker und Familien nebeneinander, viele von ihnen sind schon da.Zwischen ungleichmäßigen Blocks zieht ein Park sich quer durch die Inselsiedlung – Innenhöfe und Park denken Sonneneinstrahlung mit, als spielerisches Element nimmt der Park mit 88 Metern exakt die Breite der Prachtstraße Bulevardi auf. Vor allem kann man ihn auf diese Entfernung von beiden Seiten einsehen. In den weiten Innenhöfen warten schon Spielgeräte auf die Kinder, ringsum ragen die Häuser sechs und mehr Etagen hinauf: Schon im kommenden Sommer werden Eltern von den Balkonen zum Essen rufen. Alle Entfernungen und Dimensionen schmuggeln unauffällig Breitenmaße ein, die soziale Kontrolle ermöglichen sollen. Das tägliche Leben ist einsehbar, aber ohne den Geschmack von Überwachung: Unsicherheit und Ängste sollen gar nicht erst aufkommen, dunkle Ecken und tote Winkel werden weggeplant. Neben Raumkonzepten gibt es noch viel Technik: Die Siedlung will den Serviceverkehr um 92 Prozent reduzieren, zum Beispiel damit, dass sie ein Müllschluckersystem eingebaut hat: Zu einer zentralen unterirdischen Anlage führt ein Röhrensystem, jedes Erdgeschoss hält Stutzen bereit, deren Luken man mit dem Wohnungstürchip aufsperrt – schon hier trennt man Biomüll, Plastik oder Papier. „Die Pizzakartons machten den Leuten Schwierigkeiten. Bis sie darauf kamen, dass sie die zerschneiden müssen“, lacht Kaijansinkko. Die Luke ist mit Bedacht klein gehalten.Die Miete ist gedeckeltAuf dem Balkon ist es still geworden, die Baustelle ruht am späten Nachmittag. Als die Sonne untergeht, greifen Strahlen durch den Rohbau gegenüber, malen rote Schatten auf den Balkon, der hinter der Wellblechfassade wie ein Laubengang zum Innenhof blickt. Es gibt einige charmante Ideen im Block: Eines der früh fertiggestellten Häuser ist eine Art Altersheim für Musiker. „Wir wussten, dass die nie viel Geld verdienten oder es häufig sofort vertrunken haben“, sagt Kaijansinkko und lacht erneut. Die Bewohner bewerben sich mit einem Lebenslauf, wenn sie angenommen werden, zahlen sie eine gedeckelte Miete – in Helsinki sind Wohnungen mit um die 60 Quadratmeter und Balkon für etwa 1.200 Euro im Zentrum ein Schnäppchen. Die Stadt verzichtet sogar auf eine Kaution. Die Planer nahmen an, dass viele das Geld sowieso nicht aufbringen können.Jedenfalls läuft im Erdgeschoss des Altersheims schon das lukrativste Restaurant im Viertel. Es ist Zeit hinunterzugehen. Wie an den meisten Abenden gibt es in der Malaga-Bar ein Konzert. Viele Hausbewohner sind schon da. Und die drei Damen mit der Torte haben es auch noch geschafft.
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