Form follows Fragen

Architektur Der Chilene Alejandro Arevana erhält den renommierten Pritzker-Preis
Ausgabe 03/2016

Es gibt Schätzungen, denen zufolge über 110 Millionen Menschen in Lateinamerika in Slums leben. Der Prozess der Verstädterung geht rasend schnell voran. Alejandro Arevana ist der erste Chilene und der vierte Lateinamerikaner, der den Pritzker-Preis für Architektur zugesprochen bekommt. Mit 48 ist er gut 15 Jahre jünger als der durchschnittliche Preisträger, und er hat weniger gebaut als die meisten seiner 40 Vorgänger. Wenn er im April die höchste Auszeichnung der Architekturwelt entgegennimmt, dann wohl auch, weil er früh begann, Architektur und Städteplanung von den villas de miseria aus zu denken. „Wir beginnen unsere Projekte so weit weg von Architektur wie möglich“, sagt er und meint damit: weitab vom ästhetischen Selbstzweck. Für ihn ist Architektur immer auch soziale Dienstleistung.

Das Ergebnis sind Bauten wie die Quinta Monroy im chilenischen Iquique. Dreigeschossige Zeilen strecken sich da, stehen im rechten Winkel zueinander und werden regelmäßig von ausgestreckten Holztreppen unterbrochen. Zement, Beton, manche Fassaden sind verputzt. Die Gestaltung ist funktional, der Gedanke der „halben guten Häuser“ setzt auf die Bewohner: Je nach finanzieller Möglichkeit, Familiensituation oder Interesse bauen sie die Hausrohlinge weiter, fertig, oder wenn es sein muss, um. Mit Bauten wie diesen hat Arevana seine Skepsis gegenüber Architektur in Form gebracht: indem er sie als Prozess praktiziert, der auf genauen Fragen beruht Die Baukosten einer der Quinta-Monroy-Einheiten lag bei 7.500 Dollar. Mit dem Projekt gewann Arevana 2008 den Silbernen Löwen der Architektur-Biennale.

„Als wir damit anfingen“, sagte Arevana einmal, „waren Sozialwohnungen das Uncoolste, was man machen konnte.“ Während in vielen Architekturbüros Sozialwohnungen allenfalls am Rande mitlaufen, sieht Arevana gerade hier seine Zunft in der Pflicht. Sozialwohnungen bräuchten höhere professionelle Standards, keine Barmherzigkeit: „Bald werden eine Milliarde Menschen ohne ein Dach über dem Kopf sein. Wenn wir nicht besser und mehr bauen, werden wir die Probleme kaum lösen können.“

Politisch begründet

Natürlich hat Arevana nicht nur Sozialwohnungen gebaut, sondern auch Universitätsgebäude in Santiago de Chile oder ein verschachtelt ineinandergreifendes Studierendenwohnheim in Austin. Er war maßgeblich am Wiederaufbau von Constitución beteiligt, der Stadt, die beim Erdbeben 2010 weitgehend zerstört wurde. Arevana forderte Bewohner auf, Fragen an Gestaltung und Planung zu stellen, hörte so, dass der Ort jährlich überflutet wurde. Und plante Wälder, Lagunen und Barrieren ein. Architektur als Beteiligung.

Der Architekt selbst versteht sich nicht als strengen Vertreter einer Lehre, wie sich dominante Stararchitekten präsentieren: „Manchmal ist die Lösung für Fragen, die an Architektur gestellt werden, ein günstiges Gebäude. Manchmal musst du die Vorstellungskraft der Menschen mit Architektur bündeln.“ Form follows also, vor allem einer „kühlen Analyse dessen, was die Gleichung aufgehen lässt“. Dafür nimmt er mit seinem Büro in Kauf, keinen gesicherten Erfolg und weniger Kontrolle über die Projekte zu haben. „Denn Kontrolle hieße, in künstlerischen Begriffen darüber zu denken; dein Gebäude als Kunstwerk zu verstehen.“

Mit Alejandro Arevana hat die Hyatt-Foundation ihre Vergabe des Pritzker-Preises nach Shigeru Ban (2014) und Frei Otto (2015) erneut politisch begründet.

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