Geflüchtete auf Lesbos: „Auslagern, Verstecken, Verschieben“
Interview Die Journalistin Franziska Grillmeier beobachtet auf Lesbos, was passiert, wenn Geflüchtete nicht im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Ein Gespräch über die katastrophalen Zustände an den Rändern Europas und die Verantwortung der Regierungen
Ein „Closed Controlled Access Center“ wie hier auf Samos entsteht auch im Hinterland von Lesvos, neben einer Müllkippe
Foto: Louisa Gouliamak/AFP/Getty Images, Vincent Haiges (unten)
Die Münchner Journalistin Franziska Grillmeier ist am Tag vor unserem Gespräch wieder auf der griechischen Insel Lesvos gelandet, sie recherchiert über Migration und Grenzen der EU, 2018 hat sie hier ihr Büro eröffnet. Weiße Vorhänge wehen ins Bild, ob der Vogel vor ihrem Fenster nicht zu laut sei, fragt sie. Ist er nicht.
der Freitag: Frau Grillmeier, hörten Sie von der jüngsten EU-Initiative der deutschen Innenministerin für Asylverfahren an den Außengrenzen?
Franziska Grillmeier: Ja. Und ich kann von den griechischen Grenzen aus sagen, dass es viel Leid erzeugen kann, hier solche Verfahren zu organisieren.
Warum?
Wenn man mit Kommunen, mit Politikern spricht, mit Menschen, die auf den Ägäischen Inseln leben, stellt man schnell
Wenn man mit Kommunen, mit Politikern spricht, mit Menschen, die auf den Ägäischen Inseln leben, stellt man schnell fest, dass ein Großteil wirklich kein Interesse daran hat, dass hier Hochsicherheitslager ausgeweitet werden, um Asylverfahren, Inhaftierungen, Schnellverfahren und Zulässigkeitsprüfungen durchzuführen.Der Vorschlag, solche Verfahren in zwölf Wochen abzuwickeln, ist unrealistisch?In der Vergangenheit hat das zumindest kaum unter Bedingungen der EU-Grundrechtecharta funktioniert. Und der Vorschlag der EU-Kommission von 2020, den die Ampel ja jetzt in modifizierter Form in den Ring wirft, ist nicht neu. Genauso wenig wie die Fragen, die sich daran knüpfen: Gibt es genug qualifiziertes Personal, um diese Verfahren durchzuführen? Wer kontrolliert, dass die EU-Standards in den Zentren eingehalten werden? Was passiert mit den Menschen, wenn die Verfahren abgeschlossen sind? Ich war kürzlich auf Lampedusa, die italienische Regierung hat mittlerweile den Ausnahmezustand ausgerufen, die Regierung will Aufnahmezentren ausbauen, die Bevölkerung ist in Panik, ähnlich wie hier auf Lesvos wollen sie auf keinen Fall, dass noch mehr Lager entstehen.Sie beschreiben in Ihrem Buch „Die Insel“ auch die Eskalation 2020, das überbelegte Lager Moria brannte, Polizisten schossen Tränengas, die Bevölkerung demonstrierte, NGOs wurden bedroht, rechte Trupps patrouillierten, es gab surreale Gerichtsverfahren zur Brandstiftung. Wie sieht es jetzt aus?Es ist ruhiger geworden. Ich nehme hier eine große Müdigkeit wahr. Und Unwissenheit darüber, was ein paar Meter weiter, an den Küsten und im Lager, passiert. Vielleicht ist das ein Bild, das auch über die Inseln hinaus gültig ist, denn die Vorschläge, Asylverfahren an die Außengrenzen zu verlegen, sollen ja eher innenpolitische Signale senden. Damit werden die Probleme nicht gelöst, sondern weggeschoben, nach außen, dorthin, wo ich sie von Zentraleuropa aus nicht sehen, riechen, fühlen muss. Es ist ein Schauspiel, das seit Jahrzehnten die europäische Migrationspolitik prägt, Auslagern, Verstecken, Verschieben. In Regionen am Rand.Wie sieht es inzwischen aus am Rand?Seit 2020, seit dem Feuer in Moria, und seit dem Regierungswechsel haben sich die Dinge auch architektonisch geändert. Es gibt jetzt nicht mehr diesen orchestrierten Ausnahmezustand in Sommerzelten, in dem Menschen allein überleben mussten, oft keine Ansprechpartner hatten, willkürlicher Gewalt ausgesetzt waren. Heute werden Hochsicherheitskomplexe gebaut, Menschen hinter Nato-Stacheldrahtzaun gesteckt, von Kameras überwacht. Der orchestrierte Ausnahmezustand mit Slums wie Moria wird jetzt von einer Strategie ersetzt, die Migration als Sicherheitspolitik versteht. Die EU hat der griechischen Regierung 276 Millionen Euro für den Bau von fünf Hochsicherheitslagern auf den Inseln bereitgestellt. Drei davon sind schon eröffnet, auf Lesvos und Chios aber noch nicht. Auch, weil sich die Inselbevölkerung immer wieder dagegen wandte.Die Perspektive ist jetzt also große Gefängnisse?Ja. Die Menschen dürfen die sogenannten „Closed Controlled Access Center“ auf Samos und Leroszwar verlassen, aber die Drehkreuze können immer mal wieder einrasten, dann kommt niemand mehr raus. Im temporären Lager in Lesvos leben gerade etwa 2.000 Geflüchtete. Vor drei Jahren, im Frühling 2020, waren es zehnmal so viel. Jetzt haben Behörden ein Interesse, die Dinge zu beschleunigen, aber ich kenne auch eine Frau aus Somalia, sie ist schwer gehbehindert, sitzt seit drei Jahren auf der Insel fest. Zwar steigt die Zahl der Ankünfte gerade, noch aber sind sie sehr niedrig.Hat das mit den Pushbacks zu tun, die Sie beschreiben, bei denen die Küstenwache an der Landgrenze oder auf dem Wasser Flüchtende zurück in die Türkei drängen?Das hat mehrere Faktoren. Die oft brutalen Pushbacks spielen bestimmt eine Rolle. Zuletzt machten sich immer mehr Boote auf den Weg von der Türkei nach Italien, um die griechische Küstenwache zu umfahren. Unter Pushbacks kann man sich alles vorstellen – im Prinzip geht es darum, dass Menschen kein Asylverfahren an der Grenze bekommen. Konkret heißt es, dass sie misshandelt werden. Flüchtende berichten, dass sie, nachdem sie auf den Inseln ankamen, von maskierten Männern entführt wurden. Die nahmen ihnen Geld und Handys weg, setzten sie auf Rettungsinseln in türkischen Gewässern aus.Hat sich das mit der konservativen Regierung Griechenlands als Praxis verstärkt?Die Praxis der illegalen Pushbacks gibt es schon lange. Aber sie haben seit März 2020 zugenommen. Außerdem wurde die humanitäre Hilfe, die Seenotrettung immer mehr kriminalisiert. Und die Pressefreiheit wurde eingeschränkt. Wenn sich Ankünfte herumsprechen, werden Journalist*innen nicht zu Flüchtenden durchgelassen. Damit sind kaum noch Zeug*innen vor Ort, die dokumentieren können, was an den Küsten passiert. Wenn du hier als geflüchtete Person ankommst, wartet niemand mehr auf dich, der dir eine Wärmedecke gibt, niemand sieht, wie du in einem Bus zur Registrierung ins Camp gebracht wirst. Es ist immer mehr ins Verborgene gerutscht, was mit den Menschen passiert.Griechenland steht seit Jahren auf dem letzten EU-Rang in der Tabelle der Pressefreiheit …Ja, es gibt immer mehr Formen der Überwachung von Reporter*innen oder Behinderung der Berichterstattung bei Demonstrationen durch Polizeigewalt. Letztes Jahr wurde ein 75-jähriger Fotograf aus Norwegen wegen Spionage auf Lesvos festgenommen, weil er den Hafen fotografiert hat. Eine Woche später wurde ihm der Prozess gemacht. Eine diffuse Angst, etwas falsch zu machen, hat sich eingeschlichen, durchwirkt alle Strukturen.Klingt nach Chaos, ist das das Ziel? Sind das die Zeichen, die weit über das Lager hinausweisen?Ich habe das häufiger als eine Art Abschreckungsgefüge gesehen. Das Lager von Moria war ein Ort, der Menschen nicht willkommen heißen sollte und sie noch re-traumatisiert hat. Die Schaubühne Moria war das Signal: Komm hier nicht her. Gleichzeitig war es aber auch ein Ort, an dem es sehr viel Selbstorganisation und Widerstandsfähigkeit geben musste. Heute kann ich als Journalistin nur noch mit geführten Touren ins Camp kommen. Dabei fallen menschliche Momente der Begegnung oft vollkommen weg. Das wird sich mit der Eröffnung des neuen Hochsicherheitslagers im Hinterland der Insel, direkt neben einer Müllkippe, verstetigen. Dadurch werden die Menschen, auch für die Öffentlichkeit, immer mehr zu Geistern.Wenn ich Reportagen zum Thema vorschlage, sorgt das für müdes Achselzucken in Redaktionen, in Zentraleuropa sind die Prozesse an den Grenzen aus dem Blick gerückt. Ist das der Erfolg der Verdrängung?Ich glaube natürlich, dass es unglaublich wichtig ist, weiterhin über die Grenzen zu berichten und nicht nur anzureisen, wenn alles abbrennt. Sondern auch in den stillen Momenten. Sich gerade dann umzuhören, warum es so still ist.Placeholder infobox-1