Gegen die Beschämung

Literatur Svealena Kutschke hat ihren Roman „Gewittertiere“ zwischen autoritärer Erziehung und queerer Welt angesiedelt
Ausgabe 41/2021

Die Familie als Trauma und Vorstellung, Svealena Kutschke, wäre das ein Ansatz dafür, sich Ihrem Roman Gewittertiere zu nähern? Kurzes Zögern, wir sitzen im Garten des Ullstein-Verlags, Svealena Kutschke hat schon erzählt, dass ihr beim Nachfärben der Haare ein kleiner Unfall passiert ist, sie mit Porträtaufnahmen auch sonst ihre Schwierigkeiten hat. Die Sonne scheint. Und dann wächst da ein interessiertes Lächeln auf ihrem Gesicht, ein schönes Opening für das Gespräch sei das, Kutschke will aber nachfragen, was mit „Vorstellung“ gemeint sei. Rasche Verständigung also: Im Zentrum von Gewittertiere, ihrem vierten Roman, stehen Colin, eigentlich Cornelia, und ihr Bruder Hannes. Ihre Eltern spielen eine Rolle, eine wachsende Zahl von Beziehungspartnern der Geschwister. Aufwachsen in einer kleinen Stadt des deutschen Nordens, dann vielleicht so eine Art Erwachsensein in Berlin.

Per Verrat zum Glück

Die Eltern haben sich das Elternsein anders vorgestellt, vielleicht auch das Altern, der Vater ist mehr in eine Vorstellung verliebt, die er von seiner Frau und seiner Familie hat. Dass er im eigenen Garten einen Bunker, eigentlich eine Projektionsfläche für all seine Ängste baut, wird schnell als Scheitern-Metapher für die abgehalfterte Rolle von Männlichkeit deutlich, die in seiner Generation nicht selten ist. So stellt der Roman für Eltern und Kinder der Beckers die Differenzen von Realität und Vorstellungen gegeneinander, aus dem Riss quellen Gewalt, Zurücksetzungen, Enttäuschungen, Missverständnisse. Manchmal auch Missgunst. Menschen hören einander nicht zu, sehen nicht hin: Der Vater hält seinen Sohn für einen Schlappschwanz, der Fatalismus der Mutter umnebelt sich zunehmend mit Alkohol, Tochter Colin zieht sich zumindest zu Hause ins Phlegma zurück. Das Binnenverhältnis der Familie wird aus Sicht der Geschwister früh geklärt: „Man musste immer einen von ihnen verraten, um jemand anderen glücklich zu sehen.“

Nebenbei ziehen die 1990er Jahre vorüber: das wiedervereinte Deutschland mit den Neonazi-Anschlägen. Auch die nähere Umwelt von Colin und Hannes ist häufig garstig, der Sportlehrer ist keine Figur, die Vertrauen und Sicherheit beim Geräteturnen vermittelt, er greift den Mädchen an die Brust, Hannes wird in der Schule regelmäßig verdroschen.

Kutschke, 1977 in Lübeck geboren, untersetzt ihre Romane mit psychologischer Personenführung, mit thematischen Erzählabsichten. Man kann sie als Ideenliteratur lesen, was freundlicher klingt und gemeint ist als „Thesenromane“. Denunzianten, Mitläufer waren größere Personenmerkmale in ihrem Lübecker Familienepos Stadt aus Rauch (2017), die Familie in Gewittertiere sieht sie „im Schlagschatten der autoritären Erziehung“. Kutschke hat den NS-Erziehungsratgeber von Johanna Haarer konsultiert (dem eine eigentümliche Karriere in der Bundesrepublik gelang), das Bekenntnis zu Erziehungsmaßnahmen also, die nicht nur körperliche Züchtigung, sondern auch Bindungslosigkeiten bedeuten. Das Binnenverhältnis der Beckers ist eine Konsequenz dieser Erziehung: „Die Elterngeneration in diesem Roman hat die autoritäre Erziehung abbekommen. Eine Erziehung, die auf so vielen Ebenen arbeitet. Bestimmte Dinge wirken subkutan natürlich weiter. Die Eigenheit der Kinder wird nicht anerkannt, Kinder als eigenständige Wesen mit anstrengenden Ansprüchen, mit Ängsten werden kaum gesehen, stattdessen sind sie ein Puzzlestück, das ein Familienbild wie aus der Margarine-Werbung vervollständigen soll.“

Wenn man sich mit Svealena Kutschke über ihre Literatur unterhält, macht sich schnell eine angenehme Konzentration breit, sie legt ihre Überlegungen zum Personal von Gewittertiere aus, bis sich eine Wespe auf sie konzentriert und wir in die Remise umziehen müssen. Kutschke korrigiert sacht die Fehlleistungen des Lesers, streift durch das, was sie als eines ihrer „Hauptthemen“ nennt, die Kontinuitäten des Nationalsozialismus, eben auch Thema in Stadt aus Rauch: „Ich bin da etwas ungnädig, weil ich in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus wenig Auseinandersetzung mit der Verantwortung jedes Einzelnen sehe. Entscheidend wäre, anzuerkennen, dass die Bevölkerung mehrheitlich daran mitgearbeitet hat.“

Gleichzeitig marschieren die Beckers durch ein weites Tableau, und hier wird die Situation knifflig: Die Traumata der Familie münden in ein Coming of Age, Colin rückt ins Zentrum, macht vorsichtige Schritte in die queere Welt, Hannes schreitet eher voraus in wachsende Verzweiflung. Am Wegesrand wird recht viel in den Blick gerückt und kommentiert, von deutschem Spießertum etwa bis Videokunst ist alles dabei, der Umgang mit den Anschlägen sowieso. Die Metapher des Bunkerbaus hatte schon Jeff Nichols in seinem grandiosen Film Take Shelter vor zehn Jahren ins Zentrum von Angststörungen gesetzt.

Gleichzeitig bleiben die durch Druck in Schach gehaltenen Verhältnisse in der Familie stabil, auch wenn die Kinder aus ihr heraustreten – Colin braucht einige Liebesbeziehungen, um fester zu Bedürfnissen und Begehren stehen zu können, Hannes bleibt lange einsam, vor den Eltern aber ändern sich ihre Rollen kaum.

Als Colin dann mit Eda, einer türkischstämmigen Lesbe, zusammenkommt und noch „das intersektionale Element“, wie Kutschke es nennt, in den Roman bringt, ist es da bereits recht voll. Hannes überlebt zwischenzeitlich einen Suizidversuch und findet für eine Weile eine Frau mit Kind – in den Beziehungen der Kinder, in den Momenten, in denen sie kriseln oder zerschellen, gelingen Kutschke eindringliche, berührende Momente. Aber sie stapelt auch einige Klischees.

Vorsichtiger Versuch, wie reagiert Svealena Kutschke auf Kritik? Zumal auf Kritik, die nicht unheikel ist – der Rezensent ist männlich und heterosexuell, Kutschke spricht in der ersten Person Plural von der queeren Szene. Nur, bei queeren Themensträngen oder hin und wieder aufleuchtendem Rechtsextremismus nimmt die Sprache im Roman eine andere Farbe an, Dinge werden erklärt und ausgestellt, sie werden kommentiert, rutschen ab in etwas pamphlethafte Feststellungen. Das literarische Kleid wird dünn, der Ideenansatz hinter dem Roman deutlich sichtbar. Der Preis der eindeutigen Haltung ist, dass die Themen klein werden, wie herbeigeschafft, um die Haltung der Personen, aber auch der Erzählstimme zu bekräftigen.

Zum Beispiel blickt Colin auf ihre Partnerin Eda, es geht um ambivalente Erscheinung, in der Geschlechtszuordnung, so etwas sei immer noch eine Provokation. Das will der Rezensent sofort glauben, auch in Berlin steigt die Zahl der gemeldeten Übergriffe auf queere Menschen, und es gibt offensichtlich genügend Randgebiete, wo Menschen der Schlichtheit des ZDFnachtrauern. Eda begegnet alldem mit Gleichmut, lesen wir also nach reichlich 317 Seiten, und die personale Erzählperspektive klärt uns auf: „Es war Edas Stärke, letztlich zu einer Version zu finden, die ihr erlaubte, Mitgefühl für die anderen aufzubringen, ohne das Mitgefühl für sich selbst zu verlieren. Eda lachte nicht über ihre Narben, ihre völlig unmetaphorischen, körperlichen Narben, sie lachte über die Begrenztheit der Kategorien, der sie alle unterworfen waren.“ Abgesehen von der Dopplung von „unmetaphorisch“ und „körperlich“, warum dieser Drang zur Erklärung?

Sympathischer Moment, nicht selten gibt es in solchen Gesprächsmomenten eine Regung beim Gegenüber, die einen Ausschluss des Fragenden bedeutet: Wenn du nicht meine Grundlagen teilst, warum unterhalten wir uns dann? Kutschke verweist auf „queere Schutzmechanismen“, darauf, dass sie „über die Dinge, denen wir ausgesetzt sind, eben so sprechen. Es ist hilfreich, diese Beschämungen zuzuordnen. Gegen die wehrt man sich, indem man benennt, was da eigentlich stattfindet.“ In Gewittertiere sei es ihr darum gegangen, Entwicklungen, Differenzen in der queeren Community, die subtilen Lesarten von Körpern aufzuzeigen. Weil sie sonst unsichtbar gemacht würden. Dann sagt sie einen Satz, auf den wir uns einigen können, weil er die ästhetischen Differenzen nicht beheben will: „Wenn man gegen eine Unsichtbarmachung anschreibt, muss man manchmal deutlich sein.“

Info

Gewittertiere Svealena Kutschke Claassen 2021, 368 S., 24 €

12 Monate für € 126 statt € 168

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