"Ich bin am See und angele", hatte der Ressortleiter Kultur abgewunken auf die Frage, ob er mitkomme. Minuten später eine nächste Mail: „100 Kilometer sind Wahnsinn.“ Auch der Freund aus den Alpen hat keine Lust mitzumachen. „Riesenschmarrn, keine Berge, keine Täler, da werd ich depressiv.“ Bekannte, Geschwister, alle haben viel zu tun an dem Wochenende, an dem der Mammutmarsch stattfindet, 24 Stunden wandern, 100 Kilometer. Am Stück.
Der Marsch findet zum dritten Mal statt, in diesem Jahr mit 150 Teilnehmern. Das sind dreimal so viele wie im Vorjahr, jubeln die Veranstalter in Begrüßungsmails. Es kommt dann mein Freund Jo mit, über vierzig, einiges Gewicht um die Körpermitte, der Blutdruck hoch – dennoch, er ist zweimal Marathon gelaufen, hat Durchhaltepotenzial. Zur Vorbereitung schieben wir Jos Tochter auf dem Fahrrad durch den Oderbruch, frühstücken Müsli und laufen ein Stück Jakobsweg in der Nähe von Berlin: Jo muss etwa alle zwei Stunden rasten, pellt Schuhe und Socken von den Füßen. Ich bringe ein paar Blasen zurück und die Erkenntnis: landschaftlich schön.
Außerdem kommt noch ein Kollege mit, der für ein Magazin schreibt, das im Titel den Begriff „Geist“ trägt. Dirk will herausfinden, wie man sich für etwas motiviert, „das man sowieso nicht schafft“. Siebzig Kilometer hat er sich vorgenommen.
Noch keine Studie dazu
In einer britischen Studie heißt es, dass Männer ihre Midlife-Crisis heute nicht mehr mit jungen Frauen und Sportwagen bekämpfen, sondern mit überraschenden Tätowierungen oder indem sie plötzlich zum Arbeitsplatz radeln, sich gesund ernähren und Marathon laufen. Von Mammutmärschen wusste die Studie nichts.
Am Treptower Park ist der Startpunkt. Dort sieht man viel Funktionskleidung, mehr Männer als Frauen, alle Altersgruppen. Es ist eine Kopfsache, sagen die drei Organisatoren. Sie sitzen im Zelt und registrieren die Angemeldeten.
25 Kilometer später sind wir aus der Berliner Vorortödnis heraus. Bei Dahlwitz-Hoppegarten geht die Sonne unter, Schloss Dahlwitz steht ramponiert da. Aus alten Blasen sind neue geworden. Das Teilnehmerfeld ist auseinandergerissen, ich schließe mich zwei Hannoveranern an. Volker macht Tempo, Olaf trägt Schrittzähler und GPS-Tracker: Sie haben sich T-Shirts gedruckt, folgen einem Rhythmus, der zehn Minuten für den Kilometer vorsieht. Sie peilen eine Zeit unter 17 Stunden an.
Die beiden sind um die fünfzig, Olaf läuft seit vier Jahren Marathon. Ich überlege, wie ich das Thema Midlife-Crisis anschneiden könnte, da meldet Olaf, dass wir abgefallen seien: „10.23 im letzten Kilometer.“ Volker schaut grimmig, drückt aufs Tempo: Reden ist jetzt wohl eher schlecht.
Am ersten Haltepunkt gibt es Bananen, Müsliriegel und Wasser, jeder muss seine Nummer aufsagen, wird notiert. Jo zieht die Schuhe aus, Dirk braucht eine längere Pause. Die Entwicklungsgeschichte des Menschen verzeichnet den aufrechten Gang als ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zum Affen – das Skelett änderte sich, die Hände wurden frei, auch der Blick, geistige Fähigkeiten entwickelten sich. Mit meinen freien Händen schäle ich jetzt eine Banane.
Das Schöne an der Nacht ist die Dunkelheit, lästig sind die Stirnlampen. Ich versuche, den Abstand zu den Marathonis so zu tarieren, dass ich weder geblendet durch die Nacht renne noch in Pfützen versinke. Der Weg zieht sich. Ich denke an die AfD und ihr Versprechen, dass mit der D-Mark alles besser würde. Zumindest könnte man die Blasengröße wieder an Fünf-Mark-Stücken messen. Da überholt von hinten eine unwirkliche Gestalt: Gleichmäßig, in weißer Jacke fliegt sie an uns vorbei.
In einem Interview hat der Fußballer Thomas Müller über „die Wand“ gesprochen, die sich auftue und die man eben mental durchbrechen müsse. Vielleicht lag es an der Wand, vielleicht an der Figur in Weiß: Knapp hinter der Marathondistanz ist Schluss bei Olaf und Volker. Ein paar dunkle Kilometer schließe ich zu zwei Brandenburgern mit Lampen auf. Jetzt geht es durch den Wald, da hilft Technik.
Wichtig, hatten die Organisatoren geschrieben, sei die Ernährung. Ich habe von Dosenfisch über Nüsse und Riegel alles mitgebracht, was nützlich schien. Nur: Der Laufrhythmus siegte über die Lust, im Rucksack zu kramen. Auf einer Lichtung besänftige ich den Hunger mit Fruchtzucker, kurz darauf habe ich Magenkrämpfe. Schon länger kann ich nicht mehr mit den Fersen auftreten. Der aufrechte Gang ist krumm geworden. So fühlt sie sich wohl an, die Wand.
Literweise Wasser
Die Stunde bis zum Versorgungsposten hinter Strausberg ist eine einzige Qual. Nachdem ich meine Schuhe von den Füßen geschält habe, steht fest, dass die AfD nicht hilft: Die Blasen nähern sich Handteller-Größe. Ich schütte literweise Wasser in mich hinein, einen Sack Nüsse obendrein, zittere unkontrolliert trotz eines Schlafsackes. Oberschenkel und Rücken krampfen.
Ein ätzender Gedanke: Der Redakteur bat, dass ich, sollte ich den Marsch abbrechen, dies thematisieren müsse. Jetzt liegen vor mir 48 Kilometer und zwei Wände, die thomasmüllersche Mentalkraft verlangen. Erstens: zurück in die Turnschuhe. Zweitens: vom Stuhl aufstehen. Beine und Rücken wirken wie aus Eisen, die Füße stehen im Säurebad. Ich gehe die nächsten Kilometer auf Zehenspitzen. Dirk fällt auf Wanderstöcken zurück, Jo lächelt gequält, macht aber Tempo. Wir erreichen eine Kreuzung, kratzen an der 60-Kilometer-Marke.
Rechts geht es zurück nach Rehfelde, zum Bahnhof, zu Bett und Zivilisation. Geradeaus liegt mehr Brandenburg und in zehn Kilometern der nächste Versorgungspunkt. Von dort kommt ein Kleinwagen, darin ein Mann in weißem Kaftan mit rotem Rauschebart. Er sieht aus wie Pierre Vogel. Denken wir einmal vernünftig darüber nach: Wenn Pierre Vogel dort war, will ich da nicht hin. Dirk winkt ab, Jo geht weiter. Blanker Wahnsinn. Beim nächsten Mal: Wieder mit mir.
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