„Gehen im Schnee“ auf Finnisch: nirskua, narskua, kirskua, nitistä, narista
A–Z Am 2. April wählen die Finnen ein neues Parlament. Nur, was hat es mit dem Gebäude auf sich, in dem es tagt, was für ein Spektakel macht die Sonne im Norden? Und warum gibt es noch mehr Grenzzäune? Unser Autor hat sich ein wenig umgesehen
„Kaamos“ wird die kurze Phase genannt, in der das Licht die dauerhafte Dunkelheit der Tage durchbricht
Foto: Markku Lähdesmäki
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Aita,Zaun, raja-aita, Grenzzaun. Finnen kannten sie schon, aber nun ist ihre Grenze zu Russland beinahe berühmt: 1.340 Kilometer Wald, Sumpf, Moos, Blaubeersträucher. An einigen Stellen soll jetzt gebaut werden, ein ernsthafter Zaun nämlich, drei Meter hoch, mit Stacheldraht bewehrt, ab und an Kameras. Keine Seltenheit: Ganz gegen die Erzählung von verflüssigten, abgetragenen Grenzen wurden seit der Jahrtausendgrenze mehr fortifizierte „Sortiermaschinen“ (Steffen Mau) als in den fünf Dekaden zuvor gebaut. Es sind vor allem Zäune des Wohlstands. Den soll auch der Zaun bei Imatra (26.000 Einwohner) sichern: Der russische Teil Kareliens ist bitterarm. Die Angst, dass Russlands (➝ Suomettuminen, Finnlandisierung)hybride Kriegsführun
ettuminen, Finnlandisierung) hybride Kriegsführung Flüchtlinge auch an der finnischen Grenze ablädt, beantworteten Politiker*innen mit der Idee, insgesamt bis zu 270 Kilometer zu befestigen. In diesem Sommer sollen ganze drei davon schon fertiggestellt werden, das Parlament plant dafür 380 Millionen Euro ein. Hölynpöly ist übrigens das finnische Wort für Blödsinn.EEduskuntatalo, Haus des Parlaments Alle vier Jahre wird das Parlament gewählt, 199 Abgeordnete, einen schicken die halbautonomen Åland-Inseln dazu. Sie tagen im mächtigen neoklassischen Gebäude an der breiten Einfallstraße, nach Offizier und Staatsmann Carl Gustaf Mannerheim (1867 – 1951) benannt. Das Gebäude ist ein Klotz, zur Straße von vierzehn Säulen gestützt, Verkörperung von Gewissheit und Stärke einer noch sehr jungen Nation. Gebaut ab 1926, eröffnet 1931, kann man es als Scheitelpunkt des Neoklassizismus in Finnland lesen. Ab hier übernimmt der reduzierte Funktionalismus, schlichte Feingliedrigkeit. Der nordische Klassizismus hatte den Jugendstil abgelöst, ist gröber, schroffer: roh behauene Granitblöcke werden getürmt (ähnlich den Furiosopassagen in Sibelius-Symphonien), übernimmt die Welt-Symbolik der Säulen, bezieht sich aber auf die finnische Natur, ihre Geologie. Gegen deren Unbill hilft nur klaglose Beharrlichkeit, was das Finnische unter Sisu kennt. Und so wirkt das Eduskuntatalo auch.HHanki, Firn Eines von etwa 40 Wörtern, die „Schnee“ (lumi) in der finnischen Sprache einteilen, zu denen sich Dutzende Regionalismen gesellen. Im März und April, wenn die Temperaturen am Tag auch mal über null Grad steigen, die Nächte frieren, ist hanki eine Sehnsuchtsform: Er trägt einen, also kann man die Langlaufspur (latu) hinter sich lassen, weit in Landschaft und Wälder hinausfahren, die Tage sind bereits lange hell (➝ Kaamos, Blaue Stunde), abseits der Piste begegnet man noch weniger Menschen. Wenn man dann einen Moment innehält, den Puls reguliert, aufschaut, umschließt einen die kühle Luft, Bäume knarren, Stille ringsum, ein wohliger Schauer. Zurück von Wald und Feld kennt das Finnische für „Gehen im Schnee“ onomatopoetische Verben, die das metallische Knirschen der Sohlen aufnehmen: nirskua, narskua, kirskua, nitistä, narista.KKaamos, Blaue Stunde – die gesamte helle Zeit an Wintertagen. Der Norden ist Richtung, Landschaft und Licht. Im Winter ist es über viele Wochen stockfinster, der Tag öffnet sich wie ein Spalt in der Dunkelheit, der kurz am Horizont aufreißt. Alles beginnt mit einem zarten Blauton, der sich wie dünnes Glas über die Welt legt: eine Landschaft aus blauem Schnee und schwarzen Schattenrissen, Bäume, flache Häuser. Die Sonne bleibt unter der gewellten Horizontlinie, als gäbe es dort eine Kraft, die ihre Bewegung bremst. Ist der Himmel klar, gießt sie von dort bald ein Spektakel in die Landschaft, Strahlen greifen durch Kiefernwälder, der Schnee saugt sie begierig auf, blendet, gleißt.Die Sonne zündet ein paar Wolken an, geschmolzenes Eisen, schiebt Blau zum Rand, schichtet Orange, Gelb, es wird heller (➝ Hanki, Firn). Man steht da, vergisst alles, was man grade wegbringen, holen wollte, die 25 Grad unter null. Als dränge die Sonne alle Kraft in diese Stunden. Dann wird alles wieder vom zerbrechlichen Blau überzogen, bevor wir zurücksinken in die Dunkelheit unserer Existenz.LLöyly, Aufguss Hinter der niedrigen Holztür links der Ofen: kühlschrankhoch, Metallklappe auf Kopfhöhe, davor lehnt ein Besenstiel, am unteren Ende ein Kupferhorn, vielleicht eineinhalb Liter Wasser passen hinein. Man fragt, Nicken auf der Empore, also das Horn tief in die Öffnung stochern, Rajaportti in Tampere ist die älteste durchgängig geöffnete Sauna des Landes, der Ofen ein gemauertes Tier. Langsam am Stiel drehen und gleichzeitig ducken, das Tier faucht glühenden Atem. Sitzt man auf der kleinen Empore, passiert jetzt etwas, das von deutschen Saunen maximal unterschieden ist, es brennt einem die Haut vom Leib, wer einen Filzhut trägt, sitzt minimal aufrechter, die Sicht verengt sich, Lava beißt in Ohren, Schultern, Handrücken, Purgatorium.Ein Aufguss prüft die Beschaffenheit der Sauna und bedeutet Aushalten. Gleicht einem archaischen Strafritual, darin glimmt Hoffnung aufs Überleben. Aufguss erinnert, dass das Leben Schmerz ist, zwingt einen zur Demut, man saugt kleine Mengen Luft durch kaum geöffnete Lippen, alle wissen, dahinter öffnet sich ein Feld aus Entspannung, Gelassenheit, dann sitzen wir vor der Tür im Schnee, herrlich wird das. Aufguss? Kyllä, selbstverständlich.OOodi, Bibliothek Neben Absturzbar und Sauna (➝ Löyly) wichtigster Ort und Stolz jeder Stadt. Es ist Teil eines Kulturverständnisses, das bis in die entlegenen Ecken des Landes Bücherbusse schickt. Und es ist eine Erweiterung. In den Bibliotheken spielen Kinder, schlafen Ältere über Zeitungen, zocken Jüngere an der Playstation, bahnen sich erste Küsse an, lesen Studierende. Mit 17.200 Quadratmetern eröffnete 2018 die größte: Helsingin keskustakirjasto Oodi. Eine energieeffiziente Ode an das Lesen, aus Holz, Stahl und Glas. Oodi ist ein geschützter Marktplatz in der Form eines kühn geschwungenen Holzschiffes, es gibt ein Fernsehstudio, Gruppenräume, Makerspace, die Bücher werden von Robotern transportiert, man kann auf die Bucht von Töölö schauen. Hier werden Filme gezeigt, Lesetribünen strecken sich bis unters Dach. Am anderen Ende ziehen Kinder und Eltern die Schuhe aus, Spielplatz und Parkfläche für Kinderwagen sind gesteckt voll, wenn draußen der kalte Wind geht oder das Spätherbstgrau in einen hineinregnet. Eintritt und Benutzung sind gratis, Mittagessen ist günstig: 12 Euro 70.SSeitsemän veljestä, „Die Sieben Brüder“ Aleksis Kivis Roman erschien 1873, Finnland wurde gerade eine weitgehend moderne Gesellschaft. Gilt als erster in finnischer Sprache. Nach dem Tod der Eltern bleiben die Söhne als brutale Horde zurück, fordern lokale Autoritäten heraus, zerdeppern alles Mögliche, können weder Lesen noch Schreiben, ziehen in den Wald. Hier wird alles schlimmer, sie saufen, prügeln, lernen aber Lesen (➝ Oodi, Bibliothek). Deshalb kehren sie zurück, werden handzahm, gründen Familien. Der Roman ist weniger moralistisch, als das klingt, fragt, ob es sich lohnt, sein Leben gottesfürchtig und mit ethischen Prinzipien zu verbringen. Viele Finnen schauen sehnsüchtig auf die Freiheiten des Waldes.Suomettuminen, Finnlandisierung Ein Kernbegriff politischer Kultur der Nachkriegszeit: Eigentlich die Situation, in der sich ein Land unter Einfluss der Sowjetunion deren Zielen, Launen und Zwecken vorausschauend unterordnete. Selbstzensur und Zurückhaltung als Pragmatismus: Die UdSSR unterhielt Militärbasen im Land, wichtigster Güterhafen war der von Helsinki. Die Finnlandisierung galt für alle Richtungen: Bis 1973 erkannte Finnland aus Rücksicht auf die UdSSR die BRD nicht an. Um die USA nicht zu vergrätzen, auch die DDR nicht. Heute zur Haltung gegenüber EU-Regelungen verwendet.TTalviurheilu, Wintersport Finnlands Weg zur Eigenständigkeit fällt in die Zeit, in der moderner Sport zum Ereignis wird: Ende des 19. Jahrhunderts berichten Zeitungen von Erfolgen finnischer Skiläufer bei den Stockholmer Winterspielen, aus der Hauptstadt der alten Kolonialmacht. Die noch junge Fotografie schickt Abbilder der „Helden“ (sankareita) durchs Land. Wintersport trendet.Später wird Matti Nykänen der erfolgreichste Skispringer überhaupt, mit zwanzig Jahren hat er alle großen Wettbewerbe, einschließlich Olympia, gewonnen, ist Weltmeister im Skiflug, hält den Weltrekord. Er ist so blass wie sein Kontrahent Jens Weißflog, seine Laufbahn läuft parallel zum Wachstum von Boulevardpresse und Privatfernsehen und ihrem Geschäft mit Skandalen. Sie sezieren, wie auf Nykänens Erfolge Fallwinde im Leben folgen: Als die finnische Eishockey-Nationalmannschaft 1995 gegen Schweden die erste Weltmeisterschaft gewinnt, ist ein ganzes Land so betrunken wie Nykänen alle Tage – hackedicht. Nykänens zweite Karriere als Sänger und Stripper hebt nie richtig ab. Er verprügelt Frau und Freunde, verkauft seine Medaillen, landet im Knast. Der Sinn des Lebens: „Weiter zu springen als alle anderen“, sagt er. Alle anderen lachen. Nykänen starb mit 55 Jahren. Weißflog kam zur Beerdigung.UUjous, Schüchternheit Mit achtzehn besuchte ich für einen Monat einen Bekannten in Kuopio, mittelgroße Stadt, mittelinteressant. In der Schule, beim Sport, auf der Straße nickten mir ein paar zu, ich kannte das schon. Außerhalb von Städten wie Helsinki und Turku ist eine Art soziale Schüchternheit weitverbreitet. Man spricht das Nötigste, will nicht auffallen, lieber wenig mit den Nachbarn zu tun haben. Alkohol (➝ Talviurheilu, Wintersport) ändert das. Wir gingen also in eine Bar, Holzhaus, erster Stock. Der Laden war voll, oben standen Möbel herum, darauf schliefen schon einige, an unserem Tisch hielt ein Mann sein Gesicht in den Händen verborgen. Ich saß kaum, da lehnte eine Frau ihren Kopf an meine Schulter, beschwerte sich hinlänglich, ihr Freund liebe sie nicht. Bald zog mich einer an seinen Tisch, stellte mir die Runde vor. Sein bester Kumpel: Kickbox-Champion. Ein anderer hob wohl Gewichte. Ich konnte der Frau also versichern, dass ihr Freund sie sogar sehr liebte. Um neun Uhr legte der DJ Kuschelrock auf, Menschen lehnten eher gegeneinander, als dass sie tanzten.ZZ-kirjain Den Buchstaben Z, den es ja für dieses Lexikon im Freitag braucht, den gibt es leider im Finnischen nicht. Es gilt als phonetische Sprache, dabei repräsentieren alle Schriftzeichen nur einen Laut – und es gibt keine Zwielaute (im Deutschen ei, au, äu usw.), kein Dehnungs-H oder unterschiedliche Längen von Konsonanten und Vokalen. Die komplizierte Sprache macht eines einfach: Alles wird so ausgesprochen, wie es geschrieben wird. Nennt man phonemische Orthografie. Sehr heiter, wenn sich Finn*innen dann über ihren Peugeot oder Justin Timberlake unterhalten. Und der Buchstabe Z wird durch die lautmalerische Entsprechung ersetzt und – wenn nicht Werbebotschaften die Schreibweise übernehmen – als Laut in Lehnwörtern (lainasana) verändert: Tsepeliini, Pitsa.
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