Es ist noch einmal kalt geworden in München, graue Wolken, Nieselregen. Man könnte denken: Hamburger Wetter. „Der Jimmy kann Sie abholen“, sagt Stefanie Almer, Jimmys Frau, am Telefon. Denn es hakt mit dem Schienenersatzverkehr. Genau dort, wo man aussteigen muss, hält natürlich kein Ersatzbus.
Irgendwann kommt eine Tram, fährt bis hinter den Botanischen Garten und dort steht schon der Jimmy. William Georg „Jimmy“ Hartwig, vor fast 60 Jahren in Offenbach geboren, Sohn eines GIs, aufgewachsen in einem Armutsviertel: Der Vater einer ersten Liebe ließ, nachdem sich der Jugendliche verabschiedet hatte, damals den Stuhl abwischen. Noch im Wagen sagt Hartwig, schwarz umrandete Brille, Bart und Haupthaar weiß, beachtliches Bäuchlein: „Der HSV gewinnt heute.“
Der HSV aber spielt seit Monaten so wie die Münchner Verkehrsgesellschaft die Ersatzbusse organisiert. Und heute geht es gegen den FC Bayern. Jimmy Hartwig, 182 Erstligaeinsätze für den HSV, drei Mal deutscher Meister mit Hamburg, Europapokalgewinner, klingt trotzdem überzeugt.
Die Tür aufgestoßen
Wenn man mit Hartwig Fußball schaut, dann sitzt man mit dem zweiten schwarzen deutschen Nationalspieler vor dem Fernseher. Der erste, Erwin Kostedde, ist ziemlich untergegangen, mit falschen Beschuldigungen, falschen Freunden und richtigem Alkohol; er lebt zurückgezogen. Hartwig steht als Schauspieler auf Theaterbühnen. Er erzählt, wie Theo Zwanziger als DFB-Präsident ihn einmal zu sich nach Aachen einlud: „Ihr habt die Tür aufgestoßen, der Erwin und du.“ Kostedde und Hartwig wurden ständig bepöbelt, Alltag in der Bundesrepublik. Darüber geredet hat niemand. Deshalb taten Zwanzigers Worte gut.
Und so, in der Woche nachdem Barcelonas linker Außenverteidiger, ebenfalls schwarz, eine Banane von Spielfeld aufhob, aß und noch mit vollem Mund eine Ecke schlug (siehe auch A–Z), ist es politisch interessant, mit Jimmy Hartwig Fußball zu schauen. Aber auch die sportliche Lage gibt einiges her: Der HSV droht abzusteigen, eben jener HSV, der seit der Gründung der Liga dabei war und der einen soliden Teil ziemlich rechter Fans hat.
Fußball und Sprache, das ist ein seltsames Verhältnis: Das Spiel ist komplex, die Ausdrucksformen eher schlicht. Einen „Dinosaurier“ nennt man den HSV, dabei ist er nicht ausgestorben. Überlebt haben sich höchstens Verwaltungsstrukturen und Mitteilungsbedürfnis des Vorstandes. Hartwig sagt über die Vereinsführung nur: „Man muss da alte Zöpfe abschneiden. Damit neue Haare nachwachsen.“ Übergroße Sympathie hat er nicht für den Verein, dafür hat es wohl zu viele Demütigungen gegeben. Seit Jahren ist er Mitglied bei St. Pauli.
Der Hamburger Trainer hat einen besonderen Weg zum Erfolg eingeschlagen: Im Fernsehstudio beschreibt er, dass jetzt jemand aus der medizinischen Abteilung mit Bergkristallen Energie und Konzentration fördere. Hartwig lacht. Er kommt aus einer Welt, in der Umkleidekabinen bergkristall-frei waren. „Geistheiler“ hätten sie rasch an die frische Luft gesetzt. Trotzdem: „Heute gewinnt der HSV!“ Hartwigs Frau lacht und sagt: „Das sagst du jeden Samstag.“
Dann rennt der HSV von Verzweiflung getrieben, die Münchner sind noch wackelig von Madrids Gegentoren in der Champions League, Hartwig flucht. In der 23. Minute eine steile These: „Der HSV gewinnt heute. 2:1. Und Dortmund den Pokal.“ Je länger das Spiel dauert, desto mehr machen sich aber die Münchner frei. In der 32. Minuten spielen Robben und Götze mit der versammelten HSV-Abwehr ein Spielchen, bei dem sie sich den Ball so schnell weitergeben, dass die Hamburger ihm nicht einmal gedanklich folgen können: Flachschuss Götze 1:0. „Endlich Fußball“, sagt Jimmy Hartwig, irritierend objektiv. „Den hätte ich wohl nicht reingetan.“
Genauer ist es sogar so: Hartwig hat nichts dagegen, wenn der HSV absteigt, „sich neu aufstellt“. Führt das Scheitern zu mehr Fußballsachverstand? „Schlechter als jetzt wird es wohl nicht mehr.“ Vor allem stellt Hartwig fest, dass „ein Trainer, der in Hannover gescheitert ist“, vielleicht nicht die beste Lösung für den HSV sei. In seiner Zeit gab es in Hamburg zwei Trainer, Branko Zebec und Ernst Happel, Legenden beide. Allein in dieser Saison hatte der HSV mehr Trainer, Legenden: keine.
„Also, bei aller Liebe ...“
Zur Halbzeit fasst Hartwig Laufwege und Fehler zusammen, er sieht, dass in Hamburg aus „Einzelspielern keine Mannschaft geformt wurde“. Nach der Pause machen die Münchner weiter mit Lockerungsübungen, zur Hamburger Verzweiflung gesellt sich Müdigkeit. In der 80. Minute säbelt ein Hamburger Verteidiger Philipp Lahm um, der Schiedsrichter pfeift nicht. Hartwig: „Also, bei aller Liebe ...“ Die Wiederholung läuft, der Hamburger säbelt, der Fernsehkommentator sagt: „Also, bei aller Liebe ...“
Claudio Pizarro macht artistisch das 4:1 für Bayern, wir sind aber längst nicht mehr beim Spiel. Man will schon glauben, dass zu Jupp Derwalls Zeiten ein schwarzer Nationalspieler ein Problem war. Im Rückblick seltsam: Hartwig, einer der besten Sechser der Liga, konnte sich unter Derwall nicht durchsetzen. Einer von den 54er-Weltmeistern sagte einmal bei einer Diskussionsveranstaltung, dass es damals noch "viele Nazis" im DFB gegeben hätte. Vielleicht zu viele für einen schwarzen Sechser in der Nationalmannschaft. Allerdings sagte der Weltmeister das nach der Veranstaltung, privat. "Ich hätte mich gefreut, wenn es mal eine öffentlich Diskussion gegeben hätte", sagt Hartwig und schluckt.
Das Spiel auf dem Bildschirm plätschert aus und plötzlich steht ein Stück bundesrepublikanische Geschichte im Wohnzimmer in München-Obermenzing. Die stickige Republik, die Jahre in Hamburg, Hartwig, das Kind aus dem Armutsviertel, der schwarze Junge aus Offenbach, der sich häufig ausgebremst fühlte, dem viele deutlich machten, dass er anders sei und nicht dazugehöre.
In Hamburg scheint jetzt die Sonne auf hängende Köpfe. Hartwig schaltet zur Partie in Braunschweig. Nachspielzeit, da kommt Raúl Bobadilla, einer der ungefährlichsten Stürmer der Liga, und schaufelt einen unmöglichen Ball ins Netz von Hamburgs direktem Konkurrenten. Im Wohnzimmer ist es still. Hartwig hängt zwischen Wohlwollen und Verärgerung. „Jetzt haben die auch noch Glück“, sagt er.
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