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Redaktionssitze Der „Freitag“ hat sich verändert, um so zu bleiben, wie er ist – eine Spurensuche
Ausgabe 45/2020

Das Verb der früheren Redakteurin ist überraschend: Sie verspricht am Telefon, dass sie gegen den U-Bahnhof-Eingang Hausvogteiplatz lehnen würde. So könnten wir uns nicht verpassen. Tatsächlich lehnt dann da niemand, die U-Bahn streikt und fünf Minuten vor dem Termin fragt eine Dame, ob ich „der Herr vom Freitag“ sei. Hellbraune Jacke, und tatsächlich: Epauletten aus Wildleder, Auftritt Regina General. Ein paar Schritte und wir stehen vor dem Haus in der Niederwallstraße in Berlin-Mitte, früher Festungsbastion, bis ins 19. Jahrhundert preußisches Hofgericht mitsamt Gefängnis, viel später dann Aufbau-Verlag, in dem auch die Redaktion des DDR-Kultur-Wochenblatts Sonntag saß, der Vorgängerzeitung des Freitag. Die Fassade strahlt, die marokkanische Flagge weht, im Haus sitzt die Botschaft des Landes.

Kompromisslose Pazifistin

Regina General kam zum Sonntag, lernte Zeitungmachen, stieg auf zur stellvertretenden Chefredakteurin, musste 1990 alle, die älter waren als 55 Jahre, in den Vorruhestand entlassen und die Verschmelzung mit der von Düsseldorf nach Kreuzberg übergesiedelten Deutschen Volkszeitung zum Freitag moderieren. Wobei Gründungsredakteurin Ulrike Baureithel jetzt streng einwenden würde, dass die Volkszeitung gar nirgendwohin übersiedelte, sondern sich nach dem Konkurs mit Leserspenden im zweiten Hinterhof der Oranienstraße 25 neu fasste und zum Freitag wurde. Zweite Überraschung: Regina General wirkt, als sei sie in ihren 60ern. Vorsichtige Frage, resolute Antwort, „Natürlich dürfen Sie fragen, ich bin 1939 geboren. In Brandenburg an der Havel.“ Zum Sonntag kam sie 1962.

Die Idee hinter den Treffen ist einfach – Redakteure an Orten zu treffen, an denen die Freitag-Redaktion saß. Ganz wie die Dendrochronologie Baumringe datiert, über äußere Gegebenheiten, Besonderheiten, Stress berichtet. Philip Grassmann, von 2008 bis März 2017 und seit dem Frühjahr wieder Chefredakteur, wird später in der Nähe des Hegelplatzes erzählen, dass die Mischung aus Debatten und Traditionen ihn gelegentlich schon „überrascht“ hätte. Ihn, Regina General und andere Mittäterïnnen zu treffen, ist also eine Suche nach den Etappen der Debatten und Traditionen. Dabei gibt es Unschärfen: Biografien überlappen verschiedene Standorte, Auseinandersetzungen haben sich nach Ressortzugehörigkeit stärker eingebrannt. Hausvogteiplatz in der Berliner Stadtmitte: graue Wolken, Neubauten, Männer mit Anzug, Frauen im Kostüm. Regina General zieht den Bogen von ihrer Kindheit im Krieg zum Freitag. Als auf dem Grundstück gegenüber Kriegsruinen gesprengt wurden, überzeugte sie einen Kollegen, Tasche in der Hand, in den Keller zu laufen. Bombenkeller, Staub, die graue Ruinenwelt ihrer Kindheit: „All das hat dazu geführt, dass ich eine sehr kompromisslose Pazifistin war.“ Pause. „Und noch bin.“

Wie schlug sich der Pazifismus dann in Mitte, während des Golfkrieges ab 1990, den postjugoslawischen Waffengängen, dem Eingreifen der Nato ab 1999? Mildes Lächeln, kursorische Erinnerungen an Streit zwischen Pazifisten und Bellizisten. Noch einmal: Wie schmeckt einer Journalistin das Ende des Staates, den sie „alle mochten“, das Ende des bildungsbürgerlich-kulturell geprägten Wochenblattes, der Bezirk Mitte der 1990er, die neuen Kollegïnnen? Wie war der Schritt von der wöchentlichen Anleitung beim ZK zum basisdemokratischen Modell? Regina General lacht: „Das war unser größtes Problem, keine Chefredaktion mehr, der sogenannte Konsens, den man erst mal finden musste, alles war angeblich selbstbestimmt.“

Ulrike Baureithel erinnert sich an die erste gemeinsame Sitzung in der Niederwallstraße: „Beklemmend“, sagt sie, „da saßen wahnsinnig viele Kollegen, die meisten sehr viel älter als wir paar Versprengten. Mir wurde das Ungleichgewicht klar: Wir durften alle in den Freitag einziehen, von denen nur sieben Redakteure.“

Baureithel hat durch die Innenhöfe an der Oranienstraße 25 geschaut, der Tag dunkelt bereits, für Hoftor und Lastenaufzug hat sie noch Schlüssel. Eigentlich hatte sie 1990 ein Promotionsstipendium im beschaulichen Karlsruhe, lief dennoch im Winter durch Kreuzberg, Schneefall, heruntergekommene Fassaden, alles roch nach: „Was mache ich hier eigentlich?“

Zum Freitag mussten sich Redakteurïnnen vom Sonntag, älter, im Duktus erzählerischer, handwerklich versierter, mit westdeutschen Analytikerïnnen zusammenrütteln. Stil interessierte die insofern, als er ideologisch klar, verdichtet und meinungsstark sein sollte. Bei der Fusion zweifelten Ost-Kolleginnen, ob eine Frauen-Seite notwendig sei. Wieder Kopfschütteln, jetzt am Cafétisch, auch das Siezen in der Redaktion als feiner Unterschied zum Genossen-Du, das Händeschütteln, die Scheu vor Diskussionen. Zusammengefasst: „Wir haben unterschiedliche Sprachen gesprochen. Da trafen Kulturen aufeinander.“

Teilweise hitzige Debatten

Lutz Herden kam vom Fernsehen und 1994 in die Freitag-Redaktion, die damals am Treptower Park wohnte. Erzählt am Telefon, „dass die westliche Herkunft der Kollegen stark bemerkbar“ gewesen sei, aber politische Haltungen zum Jugoslawienkrieg bald Herkunft überschrieben. Herden spricht von „Diskussionen“, so gesittet? Nicht hitzig? „Teilweise“, gibt er zu.

Im Gegensatz zu Ulrike Baureithel erinnert er sich gerne an die Redaktionsräume, ihre wabenartige Struktur, die sich einem großen Konferenzraum in der Mitte zuwendeten. Mittagspause beim Sowjetischen Ehrenmal, sommers in Biergärten an der Spree. Innenpolitik? Herden erzählt von den Grünen, deren innere Auseinandersetzungen „ganz gut im Freitag abgebildet wurden“, auch, weil sie mit der PDS sprachen. Aber die Redaktion musste schrumpfen und mit ihr journalistische Spielräume. „Das Problem war, dass wir keinen Verlag hatten, der eine Marktstrategie verfolgte.“

In der Joseph-Roth-Diele wird der Campari-Orange mit Strohhalm serviert, vom Band singt Jennifer Rush. Michael Jäger hat kurz in den zweiten Hinterhof an der Potsdamer Straße 89 geschaut, vorn Polizisten, die nicht sagen wollen, was sie bewachen. Jäger ist schon seit 1990 beim Freitag, die Potsdamer Straße war sein zweiter Umzug. In den 1980ern habe er sich an Universitäten herumgetrieben, löste sich nach einer Weile von der kuriosen Sozialistischen Einheitspartei Westberlins, dachte über Gramscis Parteientheoretie für die Bundesrepublik nach. Nach dem Ende der DDR wendete er sich unbewusst zum Journalismus. „Es ging darum, das Links-Sein neu zu erfinden.“ In der Potsdamer Straße begleitete er Kosovo-Krieg, 9/11, George Bushs Irak-Krieg und vor allem die tiefen Risse, die die Regierung Schröder mit Hartz-Gesetzen und Sozialstaatsabbau bedeutete.

Eine Blütezeit des Freitag, sagt Lutz Herden am Telefon, plötzlich „eine sehr operative Zeitung“: Schwerpunkte, Sonderausgaben, prominente Autoren. Jäger sieht aber auch die Betonung von Realpolitik, in den 1990er Jahren gab er Schriftenreihen heraus, zum „demokratischen Kommunismus“ (hier dreht der Wirt Jennifer Rush leiser), seiner Überzeugung, dass die ökologische Katastrophe ein anderes Wirtschaftssystem, andere Lebensformen bedeuten müsste. „Wir haben vorher Streit innerhalb der Linken befeuert. Das sollten wir wieder tun.“ Nachdenken über die Belastbarkeit solch einer Strategie.

Weiter mit dem Ritt durch politische Debatten: Mit der Regierung Schröder legte sich fatalistische Schwere über politische Utopien. Trotz Angela Merkel im Amt stagnierte die Auflage.

„Wir wollten die Ostdeutschen, dieses ,verlorene Volk‘, auf dem Weg in die neue Realität begleiten“, hat Regina General gesagt, Ende 1999 ging sie in den Ruhestand.

„Früher wollten die meisten Feministinnen die ganze Gesellschaft verändern.“ Man kann dem Wort „aber“ im Satz von Ulrike Baureithel nachspüren.

Als Lehman Brothers 2008 bankrottging, druckte sogar die Frankfurter Allgemeine Kapitalismuskritik. „Was machen wir hier eigentlich?,“ fragte sich Philip Grassmann. „Wie wollen wir uns künftig von den anderen abheben?“

Wie lebt man als Kommunist in dieser Welt, Michael Jäger? Nachdenken. „In einer Zeit, in der es keine vernünftige kommunistische Partei gibt, man nichts Grundstürzendes tun kann, erledigt man seine politische Pflicht. Ich habe immerhin die Chance, zu schreiben.“ Lutz Herden, frustriert Sie das Gefühl, mit dem Freitag immer in einer Nische zu stehen? Lachen im Telefonhörer. „Nein. Weil es auch dazu verhilft, konsequent zu sein.“

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