Seine liebste Aufnahme, erzählt Oliver Elser, Kurator am Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt (DAM), sei das Bild vom Bostoner Rathaus. Ein wenig aufsichtig von Ernst Halberstadt 1973 fotografiert, steht da ein Riesentrumm, kopflastig auf schlanken Betonstützen, eine sich ausweitende Struktur, überkragende Geschosse, die ansteigend an Fläche gewinnen, gleichförmige Kloben an den Fassaden. Es wirkt, als lande da ein fabelhaftes Gefährt, noch schwebt es ein wenig über dem weiten, rot gepflasterten Platz, hat aber schon damit begonnen, einzelne Kanzeln und das Landebesteck auszufahren.
Dabei ist der riesenhafte Bau keine abschreckende Festung, sondern ein expressives Bekenntnis zu Demokratie und Offenheit: Auf den untersten Etagen finden sich die den Bürgern zugewandten, häufig frequentierten Schalter und Büros, hier leckt der rote Ziegel des Platzes noch wie aufgewühlte Gischt am Gefährt. Darüber eine Zwischenzone, in fahlem Beton, seltener besucht: Bibliothek, Ratssaal, die Amtsstube des Bürgermeisters. Im obersten Stock: Fachleute, Verwaltungsstellen, stillere Arbeitsbereiche, die Fenster hinter büroklammergleich strukturiertem Kranzgesims.
Der Bau ist ein mächtiges Zeichen, 1962 beschlossen, 1969 fertiggestellt, geplant von einem Professor und seinem Studenten. Er gewann einen neu ausgelobten Wettbewerb, nachdem vorher mucksche Entwürfe im International Style den Geschmack nicht trafen. Elser zeigt auf ein Modell, aus grober Pappe gebaut, hier kann man die Stützen erkennen, die dramatisch in die Höhe fahren, es gibt Lichtschächte, die sich bis in eine Eingangshalle bohren und symbolisch verhindern, dass von oben diktiert wird, was unten entgegenzunehmen ist, eine Treppenanlage ist zum Amphitheater geweitet. Viele Kritiker hassen die City Hall inbrünstig. Mehrere Stadtvorsteher wollten sie abreißen lassen.
Betonierte Moral
Es ist eines von mehreren imposanten Modellen, die die TU Kaiserslautern nach Frankfurt lieferte: Alle im Braunton grober Pappe, unversiegelt an den Schnittstellen, eine gute Wahl. Man geht durch die unterste Etage im DAM – es wird noch ein wenig vor der Eröffnung der wunderbaren Gesamtschau zu SOS Brutalismus – Rettet die Betonmonster! geschoben, gehängt, geklebt – und ist sofort ganz eingenommen vom Rundgang, der bei Frankfurter Initialzündungen in den letzten Jahren beginnt: Fotos vom Abriss des Technischen Rathauses, des Historischen Museums und des AfE-Turms. Alles Betonmonster. Von hier weitet sich die Schau und überblickt ein weltweites Phänomen. Und weil der fabelhafte Katalog – mit Sicherheit eines der Architekturbücher des Jahres – ziemlich schwer ist, muss man sich in eine Ecke setzen und liest sich sofort fest: „Was als Brutalismus bezeichnet wird, aber keineswegs immer etwas mit dem Bauen in béton brut zu tun haben muss, hat seinen Ausgangspunkt in der ökonomischen und materiellen, vor allem aber in der psychologischen Verfassung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg“, schreibt Jörg H. Gleiter zum Beispiel und sieht genau darin das internationale Phänomen an nationale Voraussetzungen gekoppelt.
Tatsächlich, die Ausstellung zeigt dies vielleicht erstmalig: Brutalismus ist ein Faszinosum, dessen Formensprache auf Seiten der Gewinner des Zweiten Weltkrieges, wie den USA, wie auch bei Verlierern wie Italien eine Rolle spielt. Für zerstörte Innenstädte Großbritanniens wurden brutalistische Großprojekte in Auftrag gegeben, über die Alexander Clement in seinem schmalen Band Brutalism: Post-War British Architecture 2011 einen eher buchhalterischen Überblick gab. An Stellwänden erkennt man, wie in Japan traditionelle Fugentechnik aus dem Holzbau in Beton übertragen wurde. Mit demokratischem Gestus baute man Bibliotheken, Universitäten, sogar Kindergärten in den Niederlanden oder Deutschland, in sowjetischen Metropolen und Mittelstädten wurde brutalistisch der Anschluss ans Weltniveau gehalten. Kirchen in Polen verschrieben sich der Rezeptur, dieselben Formen zeigten an, dass sich afrikanische Länder gerade von der kolonialen Knute freistrampelten. Schon die beeindruckende New Yorker MoMA-Ausstellung vom Frühjahr 2015 Latin America in Construction: Architecture 1955 – 1980 hatte geklärt: Ob zwischen den Militärdiktaturen gerade sozialistische, latifundistische oder konservative Regierungen ans Ruder gelassen wurden, Brutalismus wollten alle.
Aber tatsächlich, auch an das erinnern beim DAM Ausstellung und vor allem der Katalog: Der tiefere Sinn des Brutalismus ist moralisch. Zumindest erarbeiteten sich das Architekten und Theoretiker in den 1950er Jahren, in den 1960ern wurde vor allem ausgeführt. Der Blick auf Vordenker wie das Architekten-Ehepaar Smithson und den Theoretiker Reyner Banham lässt hinter der Ästhetik noch einmal die architektonische Ethik erkennen, ergründen, warum tragende Elemente am Bau hergezeigt und nicht modernistisch verblendet wurden. Die Ethik wollte Arbeitsbedingungen und Ausbildungsstand der Handwerker nicht verschweigen, sondern in den Verschalungstechniken für den Gussbeton aufnehmen und sich nebenbei von vorhersehbaren Gesten distanzieren.
Brutalismus ist eng an die Moderne geknüpft – und betont ihre rebellischen, individualistischen Strömungen. Beton als internationale, traditionsfreie Knetmasse wurde zu Unikaten gefügt, darin mag die britische Arts-and-Crafts-Kritik wiederaufleben; die Geste, Stützen und Riegel freizulegen, war bereits Teil industriemoderner Gebäude von Auguste Perret, oder Peter Behrens und damit knapp nach der Jahrhundertwende architektonisches Besteck. Als Praxis konnte sich der Brutalismus nach dem Zweiten Weltkrieg entwickeln, durch große Träger mit Gemeinwohlanspruch: Staaten, Metropolen, Kirchen. Es wird deutlich, dass hier ein Phänomen auftritt, in dem das seriell hergestellte Allgemeine das darüber hinausweisende Singuläre ermöglicht.
Dazu passt Oliver Elsers Hinweis, dass Brutalismus Architekten-Architektur war, expressiver Wille, Individualismus in Stein zu gießen, „eigentlich Schmuggelware, die sie den Bauträgern untergejubelt haben“. Bei der Recherche sei ihnen aufgefallen, dass China brutalismus-frei ist, weil er hier genau ob seines Individualismus abgelehnt wurde. Im Kollektivgeist des wohlfahrtsstaatlichen Skandinavien spielt er eine marginale Rolle.
Rabiate Häuser, rabiate Kritik
Brutalismus entwickelte sich als Baustil ohne die Kraft zur Synthese für all die gegenläufige politische Motivation. Die Bauten sind Solitäre. Und oft mit Schwierigkeiten: die filigranen Stützen der Architekturfakultät der Universität von São Paulo knicken nicht nur im Modell in Frankfurt etwas ein, Bauausführung und Material warfen oft Probleme auf. Beton altert nicht überall hübsch, Versuche günstiger Instandhaltung brachten eine Flut grauer Farbe, die viele Fassaden schlicht verschandelt. Immer wenn Sozialämter in großen Wohnmaschinen fast ausschließlich Bedürftige ansiedelten und diese sich selbst überließen, verwahrlosten die Gebäude rasch, wie die gewaltigen Robin Hood Gardens in London von Anfang an zeigten. Sie werden parallel zur Ausstellung abgerissen.
Gerade die Wohnprojekte zeigen heftige Probleme des Brutalismus an, nur sind diese politisch, die Bauten können dafür wenig. Und vielleicht spiegelt sich rabiate Kritik im rabiaten Auftreten der Bauten, sie war aber oft politische Strategie, die den Esel meinte und den Sack prügelte: Die allgemeine Abkehr von Staat, Wohlfahrt und Gemeinwohl bevorzugt scheintransparente Architektur, Privatisierung von Öffentlichkeit hinter vorgehängtem Glas. Mut und Selbstbewusstsein von Staat und Kirche sind heute dahin, ästhetische Form folgt ökonomischem Denken: Die demonstrativen Volumina und die verbauten Ressourcen ließ der Brutalismus oft in einem ziemlich schrägen Verhältnis zur Nutzbarkeit hängen. In Zeiten, in denen jeder Senf eines Häkeldeckchen-Rentners zur Fassade des neuen Rathauses im Internet zu Steuermittelverschwendungsempörung verstärkt wird, hat radikaler Ausdruck meist ausgedient.
Aber Oliver Elsner führt das Gespräch auf ein architektonisches Thema zurück, eines, das Individualität im Kontext berührt. Er zeigt auf den Platz rings um die Boston City Hall, das weite, von erratischen weißen Linien gekreuzte Ziegelfeld (tatsächlich sind es Treppenstufen) gibt dem Gebäude etwas Verlorenes. Das Gefährt ist in einer roten Pfütze gelandet: „Es zeigt sich doch, dass die Raumplanung, die oft mit dem Brutalismus zusammenhängt, ein Problem war.“
Info
SOS Brutalismus – Rettet die Betonmonster! Deutsches Architekturmuseum Frankfurt, noch bis 2. April 2018
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