Man kann es sich einfach machen, einmal laut Ischgl sagen, eine Art wortgewordenes Schulterzucken, erschließt sich von alleine. Ischgl, Synonym menschlicher Überschwemmung, tragischer Beleg dafür, dass genügend Geld nicht unbedingt genügend guten Geschmack bedeuten muss. Ischgl hat das Echo eines Wohlstandsaborts, eines Kultiviertheitsslums, ausstaffiert mit Alpinpopanz und wuchernden Rustikalkarzinomen. Das Betragen vieler hier ist offensichtlich ein direkter Angriff auf Überzeugungen der Aufklärung. Ischgl, kann man zusammenfassen, ist der totale Sieg des Geschäfts über Bedenken, Umwelt, Moral.
Spätestens bei Fragen der Moral im alpinen Raum, eigentlich aber schon mit seiner Wortschöpfung des „Rustikalkarzinoms“, sind wir bei Lois Hechenblaikner angelangt. Hechenblaikner, Fotograf, geboren 1958 im Tiroler Alpbachtal, kennt den Wandel des Tourismus von klein auf: Seine Eltern führten eine Pension. Er fotografiert Ischgl und Tourismus-Szenarien in Tiroler Bergen seit bald 30 Jahren. Und schaut dabei auf einen großen, seltsam reduzierten Zirkus, eine betriebgewordene Männerfantasie, in der alles auf die Schmiermittel aus Rausch, Entgrenzung und Sexualisierung bei gelegentlicher körperlicher Betätigung am Berg zugeschnitten ist.
Seine Fotografie belässt es nicht beim Schulterzucken, sondern läuft aufmerksam durch die Kulissen des Glücks, die der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze als Lehnmittel der Eventkultur aus dem Theater analysiert: „Kulissen sind gemeinsam erschaffene und ständig weiterentwickelte Projektionsflächen für Gefühle, Wünsche, Phantasien, das Menschsein überhaupt.“ Hechenblaikners Bilder sind deshalb mehr als bloße Provokation, sie widmen sich einem Zeichensystem der Gesellschaft.
Dafür öffnet er mit weiten Aufnahmen zunächst die beeindruckende Silvretta Arena, verhangene Tage, eine Ahnung von Sonne bricht durch Wolken, das Weiß verschluckt Kontraste, Schrofen fallen steil ab, wir sind weit über der Baumgrenze. Langsam rücken Pisten ins Bild, mit Macht schwillt dann die Flut der Besucher an, stürzt einen Hang herab, eine Flut sammelt, staut sich vor Liften, gleich ist Gewusel und Chaos, ganze Wälder von Skiern vor dem Schild zu irgendeiner Alp, die verspricht: „Erleben Sie Gemütlichkeit mit Hüttencharakter“. Dampfende Massen vor irgendeiner Verkaufe mit dem Titel „IceIglu“, wir taumeln durch ein Gestrüpp aus Leibern in Funktionswäsche, vor einem Furunkel der Erlebnisindustrie ist es gesteckt voll: eine offene Konzertarena in den Hochalpen, Bierstände, Verkleidungen, nackte Haut, der heilige Ritus des Ausnahmezustandes wälzt sich im Schnee. Hechenblaikners Bilder protokollieren eine Welt aus Müll, Go-go-Tänzerinnen, Dauerbeschallung. Willkommen im permanenten Junggesellenabschied.
Die Bildsprache imitiert den touristischen Blick, mischt sich in den Trubel, porträtiert den großen Spaß der Entgrenzung: Dildo und Bierflasche, Konzert und Gaudi, Planung und zielgerichtete Organisation. Hechenblaikner kommt ohne Entfremdung aus, ohne Blitz und Stilisierung. Hält Kontrastumfang und Farbspektren im Bereich der Urlaubsfotografie.
Allerdings fangen die Aufnahmen mehr ein als die halb betäubte Gesellschaft: Eine einzelne Polizistin schaut verloren den verwischten Gruppen zu, die an ihr vorbeiparadieren. Bierpaletten müssen mit dem Holzschlitten durch Schnee und Mengen gewuchtet werden; die Frage, wer all den Müll aufräumt, stellt sich sowieso. Dazwischen Aufnahmen aus der Nachsaison, mühevolle Eingriffe, Baumaßnahmen: Damit im Winter wieder Kopulationsbewegungen in Skischuhen möglich sind, müssen Liftanlagen in den Berg getrieben, Pisten gesichert, Schmelzwasserabflüsse renoviert werden.
Hinter den Kulissen ist der Betrieb selbst anspruchsvoll optimiert: Hechenblaikner schaut auf die Getränkeversorgung – entscheidendes Gegenstück zum romantisch verklärten Bergpanorama – in hochmodernen Schankanlagen: Da führen Schläuche mit Jagertee-Vormischungen zu Traditionsimitaten, die Hütte ist präzise verkabelt.
Von den Gegensätzen in Hechenblaikners Arbeit fühlen sich offensichtlich viele provoziert. Seine Bilder werden in Tirol selten ausgestellt. Das Unbehagen provoziert er mit diachronen Erkundungen, wie im kleinen Bändchen Hinter den Bergen, das im vergangenen Jahr bereits in zweiter Auflage erschien. Die trockenen Gegenüberstellungen öffnen den Blick auf Entwicklungen eines Jahrhunderts: links eine bäurische, tiefreligiöse, auf sich selbst bezogene, fast vormoderne Welt, rechts der Wohlstandsmoloch Skiurlaub. Die Verbindung zwischen den Bildern ist ästhetisch, da spiegelt der Dorfbrunnen als Form einen eingeklappten Sonnenschirm, schart hier Hirten und Senner, dort Sauftouristen. Die Handarbeit am Feld findet ihre figürliche Entsprechung in Müllsammlern auf der Piste, die Kuh am Nasenring wird ebenso geführt wie der Sklave von seiner Domina. Die geschlachtete Sau ähnelt der Dame auf der Massagebank.
Hinter den Bergen ist eine polemische Zusammenstellung, die man schnell durchblättert und versteht: hier die alte Welt, dort ihre Umformung zur Erlebnisgesellschaft. Die Zuspitzung ist valide, in der Ischgl-Reihe wirken die Bilder ambivalenter, gehen weiter – selbst wenn manche Aufnahmen dieselben sind: Die Lust an der Provokation weicht einer flächigen Beobachtung. Vielleicht wird sie deshalb sogar noch schmerzhafter, mindestens verströmt sie Trauer.
Hechenblaikners Porträts und Beobachtungen inmitten der Ausnahmezustände sind sensibel für skulpturale Dimensionen: Sie wenden sich verschränkten Körper auf aufblasbarem Spielzeug zu und finden darin choreografische Bilder. Allgegenwärtige Beischlaf-Referenzen wirken so angelernt und übernommen, dass man das Lachen der Umstehenden wahlweise als generellen Mangel oder eben auch als Pose betrauern will. Solche Posen ziehen sich durch den Band: Eine Einsegnung der Liftanlage hat für sich schon eine skurrile Dimension – der Ritus der alten Welt ist vor moderne Installationen der Spaßgesellschaft gezerrt. Im heftig feiernden Konzertpublikum ist das Dirndl ein wirres Requisit, Trägerinnen schreiben sich in die Tradition einer Vergangenheit ein, die sie zugleich verballhornen. Am Ende ist alles eins: Den Skifahrer mit Pelzmütze streckt die Erschöpfung exakt vor der geweihten Lift-Kontrollkanzel nieder. Suff und körperliche Betätigung blasen vielen in unmöglichen Haltungen und in eigentlich latent lebensfeindlichen Momenten die Lichter aus.
Kapital, aber als Medusa
In seinem feinsinnigen Begleittext zum Ischgl-Band erinnert Stefan Gmünder an Hans Magnus Enzensberger, der bereits 1958 in Essay-Fels gemeißelt hatte, dass eine Denunziation des Tourismus „sich mit seiner Kritik verwechselt“. Enzensberger hatte in seiner Theorie des Tourismus festgehalten: „Das Verlangen, aus dem sich der Tourismus speist, ist das nach dem Glück der Freiheit. Noch im Rummel von Capri und Ibiza bezeugt es seine ungebrochene Kraft. Die Bilder jenes Glücks, welche die Romantik aufgerichtet hat, behalten gegen alle Fälschung recht, solange wir nicht imstande sind, ihnen eigene entgegenzuhalten. Sie triumphieren noch über die Plakate, in die das Kapital sie medusisch verzaubert hat.“
Einerseits weist unser Verhalten als Touristen also auf ein Zukurzkommen unter normalen Umständen. Nur deshalb kann Hechenblaikner dokumentieren, dass sich unser Freiheitsbegriff oft schon mit einem Vollrausch beim Helene-Fischer-Konzert erfüllt. All das aber bekommt mit der Rolle des Covid-Superspreaders Ischgl noch einmal eine andere, vielleicht logische, jedenfalls sehr gründliche zweite Ebene. Und die weist auf eine vollkommene Abwesenheit einer vorausdenkenden, regulierenden Politik.
Die Soziologin Cornelia Koppetsch hat einmal in der Zeitschrift Merkur bemerkt, dass es beinahe unmöglich sei, „soziale Wandlungsprozesse im Augenblick des Geschehens zu erfassen, wesentliche Aspekte eines Wandels erschließen sich oftmals erst im Rückblick“. Hechenblaikners Aufnahmen wirken, als hätte er sie im eben vergangenen Winter gesammelt. Vor der Realität der Pandemie erzählten sie schon jetzt von einer anderen, ästhetisch nahen, aber doch obsoleten Epoche. Sie zeigen an, wie notwendig es wäre, unser gesellschaftliches Handeln zu überdenken. Grade weil Politiker oder Liftbetreiber darauf drängen, genau zu dem Betrieb zurückzukehren, den die Pandemie unterbrach.
Ihre Gegenbilder müssten dann weder vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts stammen noch nostalgische Züge einer Zeit tragen, in der nur sehr wenige, sehr reiche und stilbewusste Gäste die Berge malträtierten. Es wären vielleicht letzte Aufnahmen von Naturräumen, deren romantisches Potenzial sich darin erschöpft, dass sie in Ruhe gelassen werden.
Info
Ischgl Lois Hechenblaikner mit einem Beitrag von Stefan Gmünder, Steidl Verlag 2020, 240 S., 205 Aufnahmen, 34 €
Hinter den Bergen Lois Hechenblaikner mit Beiträgen von Wolfgang Ullrich und Thomas Weski, Steidl Verlag 2019, 144 S., 28 €
Kommentare 5
Mit Abgesängen bin ich eher zurückhaltend. Schon mancher hat sich als voreilig und unbegründet erwiesen.
Als Mensch, der große Massenansammlungen gerne meidet, waren - und bleiben - meine Urlaubsvorlieben (wenn überhaupt) andere.
Auch ich halte die 'Ischglisierung' für unangebracht. Jedes deutsche 'Volksfest' bringt die gleichen Auswürfe menschlich abwesender Kultiviertheit. Kämen friedfertige Aliens zur Erde und würden solche mehr oder weniger organisierte Entgleisungen wahrnehmen: sie würden entweder ihre friedfertigen Absichten schnell überdenken - oder postwendend den Heimflug antreten.
Letzterenfalls käme ich gerne mit.
Hier bin ich sowieso, schön ist es anderswo.
Nach Ischgl kommt was anderes. Wieder Malle oder Ibiza? Oder irgendetwas in Slowenien? Die andere Seite ist nämlich die, das sich jede Gemeinde über diese (Sauf-)Touristen freut, weil diese Arbeitsplätze im Ort schaffen und Steuereinnahmen eintreiben. Ein Bürgermeister/Gemeinderat der mit Blick auf die aktuelle Lage in den Kassen sich so etwas entgehen lässt, bräuchte schn mehr als viel Rückgrat.
Solche Auswüchse kann man nur unterbinden, wenn man insbesondere der Generation unter 35 jegliches Reisen verbietet. Denn genau diese Generation sorgt in Ischgl oder am Ballermann (und auch auf der kleinen Dorfkirmes) zu mindestens 80 Prozent für diese Situationen und Zustände
Warum denn gleich solche Radikallösungen?
In meiner Jugend war ein Slogan: Trau keinem über 30. Der lässt sich spielend umwandeln in: Trau keinem unter 30.
>>Die andere Seite ist nämlich die, das sich jede Gemeinde über diese (Sauf-)Touristen freut, weil diese Arbeitsplätze im Ort schaffen und Steuereinnahmen eintreiben.<<
Die es nicht nötig haben freuen sich auch: Siehe münchner Wiesn. The world's biggest beer cadaver festival.
Maximilianspapa schreibt: "Die andere Seite ist nämlich die, das[s] sich jede Gemeinde über diese (Sauf-)Touristen freut, weil diese Arbeitsplätze im Ort schaffen und Steuereinnahmen eintreiben."
Das ist zweifelsohne das beliebteste Totschlagargument aller Neoliberalen, Konservativen, Nationalisten, Rechtsextremen und Pseudo-Sozialdemokraten: Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze!
Wer in welchem Umfang von diesen "Arbeitsplätzen" profitiert und ob die "Arbeitsplätze" gut oder schlecht sind für die Umwelt und für die Volkswirtschaft insgesamt, all das spielt für Neoliberale, Konservative, Nationalisten und Rechtsextreme nämlich keine Rolle.
Auch Kriminalität, Krankheit und Krieg schaffen "Arbeitsplätze".
Wenn neoliberal-konservative Spaßvögel zum Beispiel anderen Bürgern mit Baseballschlägern die Fresse polieren, dann schafft das unbestritten Arbeitsplätze bei den Herstellern von Baseballschlägern, bei den Zahnärzten, bei den Kieferchirurgen, bei den Produzenten von Zahnimplantaten und ggf. Fachärzten für plastische Chirurgie. Warum ist es dann in zivilisierten und kultivierten Ländern immer noch verboten, anderen Leuten mit Baseballschlägern die Fresse zu polieren?
Die meisten Arbeitsplätze schafft allerdings der Krieg. Vor dem Krieg und während des Krieges in der Rüstungsindustrie und nach dem Krieg beim Aufräumen der vielen Trümmer. Das größte Wirtschaftswachstum hatten wir in Deutschland in den 60er Jahren, also ein paar Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Das wird niemand bestreiten wollen mit Ausnahme von Donald Trump und seinen autoritätsgläubigen konservativen Groupies und vielleicht der Papa von Maximilian.
Und was sagt "Mutti" Merkel dazu? "Mutti" Merkel sagt dazu: "Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich der Königin ihr Kind; ach, wie gut dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß! Tritratrulala, tritratrula, tritratrulala. Der Ball ist rund und ein Spiel dauert 90 Minuten. Tritratrulala, tritratrula, tritratrulala. Der Tag hat 24 Stunden." Es ist auch vollkommen egal, was die Rabenmutter sagt.
Im Übrigen sollte man das Wort "Arbeitsplätze" zum Unwort des Jahrhunderts erklären.