Der Schriftsteller Louis Begley bemerkt zu Recht, er herrsche "weitgehende Einigkeit darüber, dass die Präsidentschaftswahlen am 2. November zu den wichtigsten in der Geschichte der Republik gehören." Die Polarisierung sei greifbar und kulminiere in der Frage, welcher Kandidat die Qualitäten eines "Anführers" adäquat verkörpern könne. "Das Präsidentschaftssystem bringt im Gegensatz zur parlamentarischen Demokratie eine wesentlich stärkere Fokussierung auf die Personen mit sich", meint Professor David Plotke, Direktor des politikwissenschaftlichen Instituts der New School for Social Research in New York.
Der US-Präsident wird gemeinhin als der mächtigste Mann der Welt betrachtet. Seine Macht hat neben der verfassungsmäßigen Dimension auch den Mythos auf seiner Seite. Das heißt, neben seiner politischen Funktion überträgt ihm die Gesellschaft auch eine kulturelle Mission, er muss die zur sakralen Größe erhobene community verkörpern - er muss sie vor äußeren Feinden schützen und ihr ein Gefühl von innerer Führung geben. Der Ruf nach "leadership" eint alle politischen Lager - wohin der Führer führt, gilt als vergleichsweise zweitrangige Frage.
Im Gegensatz zu ihren traditionellen Wahlversprechen haben die Republikaner unter George W. Bush den größten und neben dem Militär teuersten bürokratischen Apparat in der US-Geschichte geschaffen, die Heimatschutzbehörde unter Tom Ridge. Das Homeland Security Department ist zum Synonym für eine schizophrene Einstellung zum Staat selbst geworden: "Wenn wir Steuern zahlen sollen, wenn das Waffengesetz eingeschränkt werden soll" - so David Plotke - "schreien die Republikaner, der Staat bevormunde sie. Aber wenn individuelle, religiöse oder wirtschaftliche Überzeugungen durchgesetzt werden sollen, rufen ihn alle als normierende Instanz an."
Tatsächlich funktioniert die Heimatschutzbehörde auch im Wahlkampf vorzüglich: Fast jedes Mal, wenn der demokratische Herausforderer positive Schlagzeilen hat, können Tom Ridge oder ein anderer Minister faktisch im Gegenzug eine Terrorwarnung platzieren - jedes Mal frei von präzisen Angaben. Als John Kerry im August die Einfuhr von billigeren Medikamenten aus Kanada vorschlug, warnte ein Unterstaatssekretär, al Qaida wolle "importierte Lebensmittel oder Medikamente vergiften".
Die Hinweise für die Bevölkerung wie die stete Sorge um die nationale Sicherheit seien das Verdienst des "leadership" von George Bush und seiner Entscheidung, die Terroristen in Afghanistan und im Irak zu bekämpfen, versichert Tom Ridge unablässig. Immer wieder Ängste vor einer äußeren Bedrohung zu streuen, das ist offenkundig Teil einer konzertierten Strategie der Regierung, mit der vor allem eine Botschaft transportiert werden soll: Es ist der Präsident - er stellt die Inkorporation von Sicherheit dar. Und hinter einem solchen Führer schart sich das vereinte Volk.
In Wirklichkeit sind die Aufkleber mit dem Schriftzug "United We Stand" unter der Amerikafahne, die nach dem 11. September 2001 auf Bussen, Lastwagen und Zeitungsständen klebten, inzwischen eher verblasst. Die kurzzeitig allgegenwärtige Apologie einer Klassen und Ethnien überspielenden community hinterließ von Anfang an einen schalen Beigeschmack. Je weiter die Entfernung zu den von den Terroranschlägen betroffenen Metropolen New York und Washington, je größer die Distanz zu urbanen Zentren überhaupt war, desto radikaler schien das nationalistische Pathos, mit dem sich die Bürger umgaben, wenn sie ihre Fahrzeuge behängten und ihre Vorgärten schmückten. Die Abschottung nach außen trug sofort nach dem 11. September 2001 die Tendenz der Segregation in sich: die "aufrichtigen Amerikaner" gaben den Ton an - um Abweichler kümmerte sich die Heimatschutzbehörde.
In sozialer Hinsicht erweist sich das "United We Stand" ohnehin als Farce, denn 35,9 Millionen Amerikaner haben laut den im August veröffentlichten Zahlen des Nationalen Büros für Bevölkerungsstudien extrem wenig bis nichts zum Leben, gleichwohl die allermeisten von ihnen arbeiten. Die Armut trifft wieder verstärkt schwarze Familien, allein erziehende Mütter sowie Migranten aus Lateinamerika, sie durchwandert einstige Zitadellen des Wohlstands, darunter auch jene Vorstädte, die in den fünfziger Jahren die zentrale Projektionsfläche für ein Leben der gesteigerten Mobilität und sozialen Entfaltung darstellten.
Je näher der 2. November rückt, desto aggressiver wird George Bush als zentraler Held und Garant von Sicherheit und Stabilität, als Verteidiger von Demokratie und Wohlstand inszeniert. Bush ist der "manly man", der Holzfäller, umgeben vom Militär. Er verspricht, die Bedrohungsängste überwinden zu helfen, an denen Regierung, Wirtschaft und Medien gleichermaßen basteln. Als "Bedrohung von innen" gelten die Demokraten, weil sie schwach sind - als Bedrohung von außen die "internationalen Terror-Netzwerke", weil sie unberechenbar und brutal sind. Die New York Post, ein auflagenstarkes Blatt aus dem Hause des politisch eindeutig positionierten Rupert Murdoch, titelte anlässlich des jüngsten Wirbelsturms in Florida: " Frances beginnt seinen tödlichen Überfall auf Florida". Im Innenteil dieser Ausgabe ist George Bush zu sehen, der Autofahrern, die sich in Sicherheit bringen, Kaffee und Obst überreicht.
"Unsere Feinde wollen, dass der demokratische Kandidat Präsident wird", rief der lokale Kongressabgeordnete Steve Pearce während der Wahlkampftour von Bush durch New Mexico. Und selbst in den Kommentaren der seriösen Washington Post wird der Frage nachgegangen, wen sich Al-Qaida-Führer als nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten wünschen könnten.
"Es gibt einen sehr schmalen Begriff von Stärke in diesem Land", meint David Paletz, Professor an der Duke Universität. Stärke sei irgendetwas zwischen Ronald Reagan und Arnold Schwarzenegger - "und es hat eine deutliche Verbindung zum Militarismus: Töte Tiere und fälle Bäume mit der Axt." Beide Kandidaten mühen sich nach Kräften, dieser Metapher gerecht zu werden. Bush hat einen ausgeprägten Sinn für martialische Posen, Kerry zeigt sich bei Autorennen und versucht sich in Trendsportarten. Ein solches Verständnis von Stärke, so fand Paletz in einer Umfrage heraus, sei vorzugsweise auch bei Frauen präsent. "Republikaner sind Männer, Demokraten schwul", skizziert Katha Pollitt, eine angesehene Kolumnistin jene aufgeladene Symbolik, mit der sich die Republikaner in ihrem Wahlkampf präsentieren. "Die Kampagnen beider Kandidaten zielen auf das Männliche - Bush kann nicht anders, aber bei Kerry ist das eine taktisch unverständliche Entscheidung. Elf Prozent mehr Frauen haben vor vier Jahren den demokratischen Bewerber Al Gore gewählt. Heute lesen liberal eingestellte Amerikanerinnen zwischen den Zeilen und wissen, dass Kerry für das Recht auf Abtreibung steht, auch wenn er das nicht explizit sagt", so Pollitt.
Die große Mehrheit, das sind freilich die unpolitisierten, gleichgültigen Frauen, denen - bezogen auf ihr Leben - keiner der Kandidaten hilfreich scheint. Pollitt zählt Themen auf, die Kerry ansprechen müsste, um das zu ändern: jene soziale Ungerechtigkeit etwa, die aus der patriarchalischen Struktur der amerikanischen Gesellschaft resultiere. Leider habe der Kandidat Kerry schon bei der Kampagne zu den "Primaries" vor diversen Frauenorganisationen bekräftigt, keine "besonderen Interessen" berücksichtigen zu können. "Seit wann", fragt Pollitt, "vertreten Frauen - mithin 51 Prozent der Bevölkerung - besondere Interessen?"
Die Figur des Helden, der - intellektuell ein wenig benachteiligt - vor Fehlschlägen nicht gefeit, aber stets zur Erlösung seiner selbst und zur Rettung der Gemeinschaft unterwegs ist, erscheint als kantiger Weißer aus dem Western-Milieu, der seinen guten Kern nicht versäuft und zu gegebener Zeit die Kleinstadt - sprich: die Gemeinschaft - vor der Bedrohung durch die bösen Indianer rettet. Und dass diese community grundsätzlich gut ist, wird als Axiom vorausgesetzt. Es ist der Wille Gottes, die USA sind "Gods own country".
Kein westliches Land ist so eifrig und so nachdrücklich damit beschäftigt, seinen Glauben an sich selbst der Welt als Norm zu verordnen und nötigenfalls mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Immanuel Wallerstein, Professor an der Yale-Universität, verweist auf den religiösen Ursprung dieser Haltung, die in dem Glauben wurzele, von Gott durch Reichtum belohnt worden zu sein, während andere Regionen Armut erdulden müssen. Der Reichtum an Naturressourcen, an ökonomischer Macht und politischem Gewicht gelte als Zeichen der Vorsehung. "Wir sind besser, wir waren besser, wir müssen besser sein", beschreibt Wallerstein das Credo der Nation in seiner Aufsatzsammlung Den 11. September verstehen.
Diese Meta-Erzählung kann gänzlich auf Ironie und Ambivalenz verzichten, sie glänzt durch Eindeutigkeit und lebt vom Hunger nach Helden (nach dem 11. September 2001 allemal). Sie ermöglicht es dem Präsident, einer einfachen Strategie zu folgen: Es kommt darauf an, geschickt mit der "Cowboyseele der USA" (Wallerstein) zu spielen.
"Die Wirtschaft entwickelt sich gut", ruft Bush in Verkennung oder Ignoranz der Fakten gern aus. Dazu blickt er ernst in den Saal. Dank der gemeinsamen Anstrengung aller werde man Schwierigkeiten bewältigen. In New Mexico predigt er das im blauen Hemd, ohne Schlips und mit hochgerollten Ärmeln. Bald sei die Rezession überwunden. "Wunderbare Dinge passieren im Irak und im gesamten Nahen Osten", versichert er der Menge. Demokratie und Freiheit seien auf dem Vormarsch. Auch das Bildungssystem dort entwickele sich prächtig. Aber noch sei "das Böse" nicht vollends besiegt. "Wir haben in den letzten vier Jahren vieles gemeinsam durchgestanden und viel erreicht, aber es gibt nur einen Grund, zurück zu schauen: Wenn festgestellt werden soll, wer uns am besten anführen kann."
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