Irgendwo ist oben

Wandern Unser Autor folgt der Traversata, einem Alpenweg aus dem Mittelalter. Er erfährt, wie man mit wenig Atem und ohne Sicht auskommt
Ausgabe 37/2020

Den Atem kontrollieren, den Schritt, vornüberbeugen, das Rucksackgewicht verteilen. Tiefer atmen, Rhythmus finden, den Schritt gleichmäßig, nicht zu kurz. Hinauf, nicht zu schnell an der Rampe, Stockspitzen kratzen am Fels, atmen, die nächsten Steine, der Weg ist längst aus dem Wald herausgetreten, geht jetzt steil und geradeaus, später windet er sich in Kehren durch Alpen-Tundra, teilt grelle Blumenmeere, aber das sehen wir noch nicht. Auf Fußballen um die Felsnase, irgendwo obendrüber müssen scharf ausgebildete Grate ragen, kristalline Gipfel. Wir sehen nichts davon. Wir sehen einen Pfad, eine Schneise, eine Narbe im Boden, durch grünen Teppich, gerade hier durchsetzt von Speckstein, glattgewaschen, glattgelaufen, rutschig. Nicht schneller werden, die Schritte nicht abbrechen, gleich wieder Granit, Schotter, ein paar flachere Meter, etwas aufrichten, der Schritt kann ausholen, tiefer atmen, den Herzschlag beruhigen. Wir laufen im Nebel.

„Inversionswetterlage“ wird Tage später in einer Unterkunft einer sagen, der Erste, den wir treffen, er geht mit mikrofaserleichtem Gepäck, pensionierter Pilot, kennt sich aus mit Wetterkarten und Technik, hantiert mit Begriffen, drückt an seiner großen Uhr, am großen Telefon, eine Spur Ärger im Gesicht, eine Spur Verzweiflung: Inversion seit Wochen schon. Deshalb stehen ab 1.500 Meter dichte Wolken, die Sicht 15 Meter oder 20. Dabei will er die Berge betrachten, will klare Himmel, weite Horizonte, Alpenschönheit, wozu sonst all die Stunden, die steilen Anstiege, er seufzt.

Weitergehen, bald mehr Stein als Blumen und Gras, wir gehen zu zweit: Ein Freund hat zugesagt, überraschend und mehr so aus der Hüfte heraus, Intuition oder Mut, Sommerfreiheit, „Machen wir“, Grande Traversata delle Alpi, vom Susatal im Bogen nach Südwesten. Am ersten Abschnitt erzählte einer hinter einer Dorf-Theke, dass in diesem Jahr kaum jemand unterwegs sei. „Dann los“, sagt der Freund.

Verwaiste Weiler

Zu zweit zu wandern, ist ein Vabanquespiel, eine Frage von Rhythmus, Geduld und Schweigen-Können. Wir haben Glück miteinander: Über Stunden hören wir voneinander den Schritt, scharfe Stockspitzen gegen Steine, manchmal poltert ein Brocken unter unseren Füßen. Wir gehen allein und sehen kein Ziel, die Köpfe gesenkt, meist eine Etappe am Morgen, eine am Nachmittag, bleiben unter Zeitangaben, die für die Abschnitte notiert sind. Der Dunst legt sich als Tau auf unsere Arme.

In Usseaux sind wir knapp unter den Wolken gestartet, acht Stunden wird die Etappe dauern, der größte Teil geht hinauf, der nächste Grat liegt am Albergian und über 2.700 Meter. Schritt für Schritt bleibt das Chisone-Tal mit dem reißenden Fluss zurück, es ist still, Atem kontrollieren, den Schritt nicht zu kurz, Rhythmus, Sicht eher zwölf Meter.

Wandern auf der Traversata ist eine simple Angelegenheit und deshalb anstrengend. Bergan dehnen sich Gedanken, wir laufen in körperliche Erschöpfung hinein und wieder heraus, ein schweigendes, in Strömen schwitzendes Unterfangen, ab und an gibt der Dunst leere Hochtäler frei, ein sensationeller Weg durch eine Kulturlandschaft, an scharf markierten Grenzen geht es darüber hinaus: Als wir einmal über den Wolken knapp unter der 3.000-Meter-Grenze zu einem steilen Gipfel hinaufschauen, erste Klimmzüge am Fels unternehmen, klärt sich dieser Übergang: Dort hinauf beginnt technisch versierter Alpinismus.

Die Traversata hat einen anderen Sinn, der sich auch aus ihrer Geschichte ergibt, die Waldenser zogen vom Mittelalter Spuren durch die Hochtäler, ihre Historie füllt kleine Museen, lässt sich an Bergdörfern ablesen: Die Religionsgemeinschaft wurde von der katholischen Kirche gebrandmarkt, brutal verfolgt. Im schwer zugänglichen Gelände zwischen Frankreich und Piemont fanden sie eine Heimat, knüpften ein Netz aus Handelsbeziehungen. Aufrüstung und Kriege trieben immer wieder Militärstraßen an steile Hänge, Frontverläufe schlugen sich ins Gras. Die Waffengänge zwischen Piemont und Frankreich verlangten nach Mensch und Material in absurden Höhen. Später ließ Mussolini Festen zwischen Felsenmeeren aufschichten, Handelspfade, Schleichwege, Schmuggelrouten: Wir folgen ihnen.

Daraus hat sich ein Rhythmus des Weges ergeben, eine Klarheit. Er verbindet Täler miteinander, findet die niedrigsten Stellen der Grate, zugängliche Routen. Viele Etappen später, längst im Sturatal und unter heißem Sonnenschein, lernen wir einen anderen, modernen Sinn kennen: Sanfter Tourismus will die rasende Entvölkerung stoppen, die brüchige Verbindung aus Dienstleistung und der Hoffnung, die Natur zu konservieren, in die Täler bringen. Wir merken, dass der Weg seinen Charakter verändert. Hier geht es nicht mehr in geschickten Kehren zum Grat hinauf, hier werden nicht Punkte im Gelände sicher und zügig verbunden, hier mäandert ein breiter Weg um Kuhwiesen herum, führt Meter zurück, schlängelt sich durch Wälder, will über Vorsprünge und überflüssige Höhen: Hier wird die Zeit für Ausflügler und Tagestouristen gestreckt, man führt uns um den Pudding. Wir steigen hinab und nehmen die Straße.

Den Piloten treffen wir ein zweites Mal in einem Refugium oberhalb von 2.000 Metern. Hier oben ist die gastronomische Qualität nicht mehr so exquisit wie in den Tälern, aber irgendwo über uns thront ein Berg, den schon Dante besang, von dem die Römer dachten, er müsse der höchste der Alpen sein. Verborgen im tiefen Grau sticht da oben der Monviso Hunderte Meter weiter in den Himmel als alles ringsum, 3.841 Meter, ein Bergbier aus der Region trägt nur diese Zahlen im Namen. Der Nebel hält sich, am Nebentisch erwägt der Pilot, fortan Höhen zu meiden, plant andere Routen, der Nebel setzt ihm zu.

An der Traversata bildet sich auch die nächste Veränderung des Tourismus ab, das Telefon des Piloten spielt ihm Kartenmaterial ans Handgelenk, im gewichtsoptimierten Gepäck ist kein Platz mehr für Reiseführer aus Papier, von Krieg, Verfolgung, dem feinen Netz der Kultur erfährt er nichts. Um Höhepunkte wie den Monviso herum ist die Traversata stärker frequentiert, dabei steigen Preise und Auslastung der Unterkünfte, an anderen Etappen wachsen Pfade zu, wir passieren geschlossene Unterkünfte, verwaiste Weiler.

Der Deutsche Alpenverein hatte zwischen 1870 und 1930 „eine klare Verschiebung des Fokus von wissenschaftlichen und naturästhetischen Momenten zu einem persönlichkeitsbildenden Moment, das aus der Überwindung von Schwierigkeiten resultieren würde“ beobachtet. Heute ist die Instagramability der Landschaft wichtig, dagegen rechnen viele die Entscheidung, ob sie die Reisestrapazen auf sich nehmen wollen. Etliche versuchen ihr Auto direkt neben Bach und Almwiese zu parken. Im Nordteil, hören wir, zerreißt dagegen das Wegenetz schon einmal, zumeist dort, wo die Gipfel und Aussichten schwieriger zu erreichen sind. Etliche Tage später erreichen ganze Trupps von Radfahrern ein Rifugio, viele bauchig und mit E-Bikes, andere reißen Etappen zwischen Turin und Nizza ab; Landschaft und Kultur, erzählen sie, wollen sie sich ein anderes Mal anschauen.

Reden müssen wir nicht

Beim Abendessen schaut der Pilot traurig in graue Luft vor dem Fenster. Später öffnen sich die Wolkenwände für einen kurzen Moment. Hüttenwirte hatten uns versichert, dass der Monviso technisch nicht anspruchsvoll sei, wir hatten mit dem Gedanken gespielt, in der Morgendunkelheit hinaufzusteigen, von der Traversata abzuweichen. Das war vor der Nachmittagsetappe, die über Stunden durch Regen und Hagel führte, bei der Temperaturen plötzlich einstellig wurden, Wolken sich donnernd entluden, Daumen einfroren und Schneefelder auf 2.500 Metern hakeliger wurden.

Nach dem Essen klart über dem Rifugio die Luft auf, für eine Minute schaut aus Wolken eine scharf gerissene Spitze: unwirklich steil mit sattem, strahlendem Schnee, gerahmt von tiefschwarzem Fels. Wir stehen da und verstehen, dass wir zurückkommen müssen für einen anderen Versuch, mit anderer Ausrüstung. Reden müssen wir nicht darüber. Beim Frühstück wird am Nebentisch aus Trauer Verzweiflung, der Pilot erhält stille Zeichen: Die Uhr, die ihm Höhe und Strecke, Abzweige vorsagte, die seinen Tag strukturierte, den Nebel durchlässig machte, ist über Nacht verschieden. Er wendet das Gerät in seiner Hand, der Weg scheint für ihn vorbei.

Weitwanderwege haben schlichte Tagesabläufe, es geht um Tagessoll, Essen, Unterkunft, ein paar Seiten Geschichte, Kultur, um neun schlafen wir fest. Wandern im Nebel ist noch weniger: Der Schweiß rinnt stundenlang am Körper hinab, es gibt kaum etwas zu sehen, die Landschaft ertrinkt im Grau, unmöglich, Etappen in gröbere Abschnitte zu unterteilen. Aus dem Dampf steigt eine Felsnase, die Scharte im Boden geht geradewegs ins Nichts, ab und an tauchen Markierungen auf. Allenfalls stemmt der Boden seine Farben gegen die absorbierende Kraft der Wolken: Steinnelken, Butterblumen, Edelweiß, all das auf einem Bett mit grünem Bezug. Murmeltiere balgen sich, wetzen davon; Steinböcke pfeifen uns an, zeigen sich mächtig auf dem nächsten Felsvorsprung. Uns bleibt der Schritt, der Atem, die nächste Kehre, der Wechsel der Vegetation, ihr Verschwinden im Fels: ein tolles Spiel der Reduktion.

Der Verlust an Sicht zwingt den Blick nach innen. Hin zur Frage, wofür das alles, und an ihr vorbei – Antworten zerfasern zu sinnlosen Gesten, denn es geht hinauf, irgendwo ist oben, dahinter wieder hinab.

Wir rätseln kurz, was uns Leistungszwang vor den Genuss stellt, Höhenmeter vor den Teller mit frischen Nudeln. Abstiege durch Schrofen vor Polenta und den halben Liter vom Roten. Das Gespräch verweht, der Weg wird steiler.

Im Nebel kann man Fehler machen, sich verlaufen. Dann hangeln wir uns am Fels hinab. Man kann zu schnell gehen, hektisch werden, dann braucht man Pausen, Wasser, Sammlung, Luft. Den Rhythmus neu finden, die Schritte messen, atmen. Ein grober Schnitzer wäre, später und schon im Bellino-Tal an der kleinen Osteria L’iero d’Eimà in Celle vorüberzugehen: Aus der offenen Küche reichen sie unfassliche Ravioli zum Wein, eine Art frische Schupfnudeln mit ausgelassener Butter, und hintendrauf Pannacotta – man möchte sofort vom Küchenpersonal adoptiert werden.

Nach dem Espresso schauen wir hinaus, Nachmittag, die Wolken haben sich etwas gehoben. Wir gehen los.

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