„Klassenkampf braucht Mythos“

Interview Der Kulturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe hat die Bedeutung von Kunst und Poesie für die Arbeiterbewegung erforscht
Ausgabe 31/2017
Ein Klassenbewusstsein entsteht manchmal schneller, als man denkt
Ein Klassenbewusstsein entsteht manchmal schneller, als man denkt

Illustration: der Freitag

der Freitag: Herr Eiden-Offe, Sie erblicken zum Beginn des 19. Jahrhunderts eine „Poesie der Klasse“. Was meinen Sie damit?

Patrick Eiden-Offe: Darin steckte eine Forderung des romantischen Antikapitalismus. Man wollte in der Zerstörung von allem, was dem Leben bislang Halt gegeben hatte, auch einen Anlass sehen, die eigene Vorstellungskraft und ein eigenes politisch Imaginäres zu entwickeln. Zeitgleich zur Proletarisierung ging es dabei auch um Momente der Unvorhersehbarkeit, des Zaubers.

Der „Schatz warmer Liebe im Herzen der Arbeiter“, von dem der Dichter Georg Weerth schrieb?

Ja, dieser Schatz sollte die Arbeiter dagegen schützen, zu Maschinen zu werden, zu denen sie tagtäglich gemacht wurden. Die Poesie hat sie davor bewahrt, innerlich vergiftet zu werden.

Prägten Dichter das Klassenbewusstsein? Oder waren das Karl Marx und Friedrich Engels?

Das Klassenbewusstsein wird ganz wesentlich von romantischen Impulsen geschaffen. Die Begriffe selbst kommen erst später. Dieser romantische Impuls wandert in die frühe Arbeiterbewegung, die auch erst einmal viel Dichtung und Poesie ist – es gibt aber nicht diese Trennung von Theorie und Literatur, die wird sogar absichtlich ausgesetzt.

Hatte die Poesie eine mythische Rolle für die Konstitution der Arbeiterklasse?

Ich würde Mythos hier ganz funktional auffassen. Es werden Ursprungserzählungen erschaffen. Es gab gar kein Bild davon, was eine Arbeiterklasse war, sondern eine totale Vereinzelung und Zerstreuung von Schicksalen. Man braucht Bilder, um sich seiner selbst vergegenwärtigen zu können, Erzählungen. Das Interessante ist, dass in der frühen Phase, wo es das Allerschwerste war, das tägliche Brot und Überleben zu sichern, die Arbeiter sagten: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Es reicht nicht, zu überleben. Zum Leben gehört mehr.

Also Kunst, Musik und Nachdenken über seine Rolle?

Ja, da gehört zum Beispiel das Theaterspielen dazu. Die Arbeitervereine haben sofort alle Theater gespielt, um sich über ihre Situation zu verständigen: Wir sind nicht diese Maschinen. Wilhelm Weitling, selbst ohne Schulbesuch aufgewachsen, nennt das: Bildung.

Zur Person

Patrick Eiden-Offe, geboren 1971, ist Literatur- und Kulturwissenschaftler. Gerade ist sein Buch Die Poesie der Klasse: Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats ( 460 S., 30 €) erschienen

Sobald die Arbeiterbewegung organisierter wird, schwindet der poetische Teil. Was passiert da?

Es gab die wachsende Notwendigkeit, politisch zu agieren. Sobald Organisationen ins Spiel kommen, braucht man Programme, man taktiert, fragt, wie man stärker werden, Erfolge erzielen kann. Recht schnell kristallisierte sich heraus, dass die stärkste Gruppe im Proletariat die Industriearbeiter waren. Karl Marx spielt da eine entscheidende Rolle.

Als Journalist?

Nein, weil er sich theoretisch Gedanken machte. Er versuchte, die Entwicklungen auf einen Begriff zu bringen. Sozialtheorie und auch die bürgerliche Soziologie entstanden, Marx entwickelte den Begriff des doppelt freien Lohnarbeiters, der im Prinzip in der Reinform nur auf den Industriearbeiter passte.

Warum reduzierte sich in Deutschland das poetische Element schneller als zum Beispiel in Frankreich und England?

Die deutschen Arbeiterparteien waren die mächtigsten der Welt, die waren überall ein Vorbild. Denken Sie an die SPD! Die hatte machtvolle politische Organisationen, machtvolle Gewerkschaften. Die haben unglaubliche Verbesserungen der Lebensbedingungen durchgekämpft. Das darf man nicht unter den Tisch fallen lassen. Aber all das, was am Anfang wesentlich für die Bewegung war, wurde in den Überbau abgeschoben. Dafür gründeten sich proletarische Gesangs- und Taubenzüchtervereine – proletarische Gegenwelten. In England gab es länger einen viel integrativeren Begriff der working class culture. Das ist eine ganze Daseinsweise. In Deutschland ist das viel segmentierter gewesen. Getrennt von der Partei gründeten Arbeiter etwa den Schiller-Leseverein und die Laubenpieper.

Damit sind wir eigentlich schon in der Aktualität angekommen. Sie blicken auf den Vormärz und finden aktuellen Stoff für soziale Auseinandersetzungen heute.

Ja, es gibt frappierende Analogien zum Vormärz. Während sich damals das Proletariat aber erst bunt und heterogen zusammenfand, lösen sich heute Arbeitsformen wieder auf. Die sozialen Sicherheitsvorkehrungen verschwinden, der Arbeitsmarkt wird dereguliert. Das Leben wird prekär, und das Prekariat wieder bunter. Das nenne ich die inverse Aktualität des Vormärz. Es gibt wieder mehr unfreie Arbeitsverhältnisse, Schuldknechtschaft aufgrund von Migration taucht wieder auf: Menschen müssen fiktive Schulden durch jahrelange Plackerei als Prostituierte oder Arbeitssklaven abtragen.

Aber heute gibt es doch weniger Bereitschaft, das Leben anders als ökonomisch zu sehen, oder?

Ich finde doch. Wenn man sich René-Pollesch-Inszenierungen anschaut, rennen da immer Leute herum und rufen: „Ich will so nicht leben.“ Das geht über die Inszenierung hinaus, ist aber noch unbegrifflich, unklar. Aber die Kritik am Neoliberalismus, an der Ökonomisierung des Lebens, am Effizienzgeleiteten – das kann man doch überall beobachten.

Nur: Die grundlegende Rationalität des Kapitalismus bleibt unangetastet.

Ich glaube, es herrscht eine sehr weit verbreitete Unzufriedenheit, die keinen Begriff von Klasse hat. So gab es ganz unterschiedliche Kampfformen in der Geschichte. Und es gibt sie auch noch heute. Im letzten Kampfzyklus, den wir miterlebt haben, gab es zum Beispiel 2011/12 diese ganzen Platzbesetzungen: vom Tahrir in Kairo über die Occupy-Bewegung in den USA bis zu den Protesten gegen die Krisenpolitik in Südeuropa. Die Vorstellung war: Wir nehmen uns den Raum, wir wissen nicht, was wir wollen, bleiben aber so lange, bis wir es wissen.

Sehen Sie denn Ansätze, dass Prekariat und Mittelschicht ein gemeinsames kapitalismuskritisches Klassenbewusstsein entwickeln könnten?

Ich würde sagen, dass es das gibt. Es gibt die breit wahrgenommene sozialwissenschaftliche Debatte um das Prekariat. Die Neoliberalismus-Schelte ist eine eigene Literaturindustrie geworden. Das hat alles einen substanziellen Kern.

Aber es dauert lang, bis so ein Klassenbewusstsein entsteht!

Das geht manchmal schneller, als man denkt. In solchen Momenten funktioniert Zeitlichkeit anders. Es gab sehr lang Kritik daran, dass man die Epoche nicht Vormärz nennen solle. Ich glaube aber, es ist die beste Beschreibung, die es gibt. Die Zeit ist geprägt von der Revolutionserwartung. Seit den 1820ern wissen die Menschen also, dass ein März kommen wird. Ob nun im April oder Mai, ist egal. Die warteten also die ganze Zeit. Das gibt es heute auch.

Ach ja?

Meine Lieblingsanekdote: Mai 1968 in Paris, Generalstreik, wilde Besetzungen, umfassende kulturelle Produktivität. Im Februar hatte damals eine Studie noch festgestellt, dass die französische Jugend noch nie so unpolitisch gewesen sei. Revolutionäre Zyklen haben eben andere Zeitlichkeiten.

Könnten die Dinge wieder so ineinanderfallen?

Die weltweite Occupy-Bewegung hat mich persönlich beeindruckt. Die haben von sehr verschiedenen Ausgangspunkten zu einer gewissen Konvergenz gefunden. Da wurde auch globale Zusammenhänge hergestellt, die vorher unsichtbar waren. Die indische Bäuerin, die für die Freiheit ihres Saatgutes kämpft, konnte plötzlich mit einem Freak aus New York Gemeinsamkeiten finden.

Kann es sein, dass der zusammenführende Mythos heute aber fehlt?

Klar. Jeder Klassenkampf muss einen Mythos haben. Den kann ich aber nicht als Wissenschaftler erfinden. Historisches Material kann man aufarbeiten, mehr nicht. Mythos im funktionalen Sinn, Erzählungen, Bilder – ohne die kann es nicht gehen.

Sind wir durch die kolonisierende Macht des Kapitalismus zu sehr eingeengt, als dass ein Klassenbegriff entstehen könnte?

Die Kritik, dass der Kapitalismus unser Innerstes, das einmal für den Widerstand zuständig war, kolonisiert habe, ist eine alte Diagnose. Solche Beschreibungen laufen ja immer auf absolut ausweglose Situationen zu, also: Was jahrhundertelang für den Widerstand zuständig war, sei jetzt Kraft der Macht selbst geworden. Das glaube ich nicht. Denn es geht nicht darum, etwas aus einer Ressource, die vom Kapitalismus nicht befleckt ist, zu erfinden. Sondern es geht um Kombinationen, um Montage. Man nimmt Vergangenes und baut es neu zusammen, so dass es für heute verwendbar ist: romantischer Antikapitalismus.

Das Gespräch führte Lennart Laberenz

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