„Magyar Modern“: Moholy-Nagy, Kassák und Péri im Berlin des frühen 20. Jahrhundert
Kunst Wie entscheidend und vielfältig der Einfluss ungarischer Modernisten wie László Moholy-Nagy oder Joseph de Lampérth im Berlin der 1910er Jahre war, zeigt die eindrucksvolle Ausstellung „Magyar Modern“ in der Berlinischen Galerie
Was haben Hugó Scheiber, Marcel Breuer, Éva Besnyő gemeinsam, was László Moholy-Nagy, Robert Capa, Brassaï, Lajos Kassák, Noémi Ferenczy und Oskar Kaufmann? Sie alle stammten aus Ungarn (oder dem ungarischen Teil des Kaiserreichs), waren Künstler*innen, die zu einem Netz gehörten, das sich etwa ab 1910 in Berlin knüpfte. Sie sendeten Impulse in Kunst, Kultur, Gestaltung, ihre Bilder und Skulpturen wurden ausgestellt; sie entwarfen und bespielten einen Teil der wichtigsten Theater, fotografierten die hektische Metropole, verzweifelten in ihr, planten, bauten lebenswerte Quartiere und ikonische Sportstätten. Und mussten nach 1933 wieder auswandern.
Diesem Netz widmet die Berlinische Galerie eine große Schau, eine Besichtigung vo
htigung von Arbeiten, die immer auch aus politischen Haltungen wuchsen. Bei solchen Phänomenen sucht man gerne Ausgangspunkte und findet oft vielfältige Prozesse: Der Historiker Tibor Frank skizziert im Katalog die deutsch-ungarischen Kulturbeziehungen, auch dadurch eng geknüpft, weil Ungarn Teil der Habsburger Monarchie war. Das akademische Leben orientierte sich stark am deutschen System, viele Lehrende hatten an deutschen oder deutschsprachigen Universitäten studiert. Nach dem Untergang der Monarchie engagierten sich viele Künstler*innen in der kurzen ungarischen Räterepublik von 1919, wurden im Anschluss vom „weißen Terror“ des Reichsverwesers Miklós Horthy vertrieben: Ihre revolutionäre Haltung oder der wachsende Antisemitismus brachten sie in Gefahr. Nach Wien war Berlin die nächstliegende Perspektive.Hier hatte außerdem der Kunsthändler Paul Cassirer mit dem Schriftsteller und Journalisten Lajos Hatvany 1910 eine große Schau in der Berliner Secession organisiert, die Ausstellung Ungarischer Maler zeigte fast 200 Bilder, mit ihr gaben vor allem die post-impressionistischen Avantgardisten der Gruppe Die Acht in Berlin ihr Debüt. Vier von ihnen blieben länger.Die Schau wurde in Ungarn gefeiert und entwickelte so etwas wie einen Pull-Faktor – also in den Augen vieler, die heute über Migration nachdenken, eine ganz verwerfliche Sache. Magyar Modern zeigt, wie tief sich das wachsende Netz in Berlin verankerte, wie Raum, Verkehr, Licht, Linien, Ornamentik neu vermessen wurden. Dabei ist „Ungarische Moderne“ ein großes Wort, die nationale Zuschreibung wird vielfach unterlaufen, Breuer studierte kurz in Wien, machte eine Lehre am Bauhaus in Weimar, Scheiber war acht, als seine Eltern ihn nach Wien verfrachteten, er etablierte sich hier unter avantgardistischen Künstlern. Sein Freund Kassák zog von dort nach Paris, hier lebte Brassaï ab 1924, nachdem er in Ungarn und Deutschland studiert hatte. Wie überhaupt zu Beginn des 20. Jahrhundert waren Paris, der französische Impressionismus, Cézanne die Bezugspunkte.1933 riss das NetzDie Berlinische Galerie versucht den weitverzweigten Reigen von Stilen und Disziplinen in neun Kategorien zu bändigen, von der Schau in der Secession schwenkt der Blick auf die agitatorische Plakatkunst der Räterepublik: Die kurze sozialistische Republik wollte einerseits das Proletariat durch Bildung fördern, aber auch eine neue, der alten radikal entgegengesetzte Kultur schaffen. Ein nächster Raum wird gleichsam daraus geboren, Lajos Kassák entwickelte sich zum Lyriker, Schriftsteller und bildenden Künstler, gab mit der Zeitschrift Ma (dt. „heute“) eine einflussreiche Plattform für alle Strömungen des Modernismus heraus. Der Kunsthistoriker Merse Pál Szeredi erkennt an Kassáks Arbeiten die Perioden, die die ungarische Avantgarde prägten: in der zweiten Hälfte der 1910er deutscher Expressionismus, im nächsten Jahrzehnt Dadaismus und Konstruktivismus, später surrealistische Strömungen.Ma und Kassák waren bald eng mit der Zeitschrift Der Sturm von Herwarth Walden verbunden, Waldens gleichnamige Galerie in Berlin ebnete den expressiven, farbintensiven Kompositionen von János Mattis-Teutsch den Weg, entdeckte László Moholy-Nagy oder Peter László Péri mit ihren grafischen Abstraktionen. Als Walter Gropius einen neuen Lehrer für das Bauhaus suchte, fand er Moholy-Nagy durch Waldens Galerie und die häufigen Reproduktionen in dessen Zeitschrift.Ab 1923 lehrte Moholy-Nagy am Bauhaus – und er wurde zu einem Fixpunkt der ungarischen Modernist*innen: Seine Telefonnummer zu bekommen, war wichtig für alle, die in Berlin nach Arbeit, Orientierung, Unterkunft suchten. Sein Status bedeutete auch, dass ihn viele Informationen suchten: Als einer der Ersten erfuhr er vom russischen Konstruktivismus, der über ihn in Berlin Fuß fasste. Die Basis für die Verbindung zwischen Kunst aus der Sowjetunion und Westeuropa, ihren Schauplatz Berlin, bestimmte also eine Ungarn-Connection. All das bündelt die Berlinische Galerie in einem Blick auf Herwarth Walden und die Galerie Der Sturm: Walden riss seine Türen weit auf für allerhand künstlerische Positionen. Deshalb hängen Lajos Tihanyis scharfkantige Kompositionen in der Nähe der düsteren Tuschearbeiten von József Nemes Lampérth – die farbprächtige Dynamik sieht Berlin als chaotisch, euphorisch, all dem Neuen und seinem Tempo zugewandt; wie wenig sich Lampérth darin wohlfühlte, zeigen seine nächtlichen Streifzüge: den Brücken von Paris viel näher als der Stadt an der Spree. Dazwischen ruhen Noémi Ferenczys Webteppiche mit beinahe folkloristischem Geschmack. Weiter geht es, Fotografie und Film, neues Sehen, schwarz-weißes Atemholen an Schauplätzen, die bald wieder von Sport und Gewusel gefüllt sein werden. Wie sehr die ungarischen Modernisten die Stadt auch räumlich prägten, eröffnen Arbeiten, mit denen Kunst in sie hineingriff. Aus den konstruktivistisch-strengen geometrischen Grundformen wurden Rauminstallationen, Häuser, Straßenzüge. Fred Forbát baute nicht nur das Mommsenstadion, sondern auch die Großsiedlung Siemensstadt, lieferte den Bebauungsplan und die Entwürfe für Geschosswohungen der großen „Reichsforschungssiedlung Haselhorst“. Auch Stadtplanungen für die Stadtteile Zehlendorf, Machnow und Kladow stammen von ihm.Oskar Kaufmann entwarf und baute das Hebbel-Theater, die heutige Volksbühne, das Renaissance-Theater, das Theater am Kurfürstendamm. Um- und Ausbau der neuen Kroll-Oper am Platz der Republik beschäftigten ihn über acht Jahre. Als nach dem Reichstagsbrand 1933 hier das Parlament tagte und die NSDAP die politische Opposition unterdrückte, ging die Zeit der ungarischen Modernist*innen in Berlin abrupt zu Ende. Das Netz zerriss, die kulturellen Spuren gerieten in Vergessenheit. Jetzt kann man sie neu besichtigen.Placeholder infobox-1
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