Roman Die Dänin Tine Hoeg konfrontiert in ihrem zweiten Roman „Tour de Force“ eine 30-Jährige mit der Vergangenheit. Was klingt wie tausendmal schon gelesen, wird durch Hoegs eigenwillige Sprache zu einer Lektüre, die man nicht vergisst
Asta ist grade 30 Jahre alt geworden, „die dritte Phase der Jugend“, hat sie einmal gelesen, aber das wissen wir noch nicht. Davor liegen Studium, Jahre in der WG des Studierendenheims, Prüfungsstress, Alltag in der Gemeinschaftsküche, Sehnsüchte, Partys. Nun sind die wilden Jahre vorbei, aus der WG sind alle ihrer Wege gegangen, Freundin Mai hat jetzt einen Sohn und keinen Vater dazu, Asta kümmert sich gern. All das werden wir lesen, nachdem Tine Høegs zweiter Roman mit einem kurzen Satz auf einer ansonsten leeren Seite beginnt: „Ich bekomme eine Einladung zu einer Gedenkfeier am 29. Juni im Blomsten.“
Die Feier soll an August erinnern, der auch in der WG lebte. Er starb vor zehn Jahren. So ein Termin materialisiert vergangene Zeit, bedeutet
, bedeutet, sich zu erinnern. Bedeutet auch, die anderen zu treffen, zu überprüfen, wie es läuft. Ob es denn läuft. Der Tod ist immer auch eine Frage an das eigene Leben.So ein Ausgang klingt wie eines der Selbstbespiegelungs-Settings, in denen sich viele deutsche Romane suhlen. Mit dem viel brav geschriebene Literatur die Vergangenheit in Kleinstädten, Umbruchstädten, Jugendorten, eine Vergangenheit als Punk, Zivildienstleistender oder Dazugezogene durchdekliniert. Ist es aber nicht. Tine Høeg ist Dänin, ihr Ton bleibt nüchtern, meidet Wiedererkennungs-Kitsch und billige Identifikationsangebote.Die Einladung trifft Asta, als sie an ihrem zweiten Roman schreibt, wirft ihre Pläne für den Roman durcheinander, nach vorn drängen die Vorstellungen von damals, was sie vom Leben erwarteten, was sie vorhatten. August und Mai studierten Medizin, lernten Hautschichten auswendig. Sie waren zusammen, aber das Zusammensein trat nur langsam aus der Flüchtigkeit heraus. Auch sehr ausgeprägt: Die Erinnerung an Mai, die ihre beste Freundin geblieben ist. Selbst als das Begehren zwischen August und Asta auch anderen auffiel.Wie in Neue Reisende (Droschl 2020) kultiviert Høeg eine ganz eigene Form der Erzählung: Sie reduziert Abschnitte und Kapitel auf eine magere Reihe einzelner, oft freistehender Sätze – eher Satzgräten, für die der Begriff „Knochen“ noch zu voluminös klingt –, die eine radikale Subjektivität und eine ganz reduzierte Perspektive auf die Dinge entwerfen. Sätze und Abschnitte von Tine Høeg folgen keiner epischen Struktur, sondern springen umher wie Gedanken, stolpern, wenden sich ab, hüpfen über Themen und Eindrücke, laufen gegeneinander, werden durch Konzentration gebündelt, bei der Sache gehalten. Durch Astas Augen gewinnen die Erinnerungen, Lebensumstände und Vorgänge in der WG an Konturen. Dass sie und August sich ihre Gedichte vorlasen, von denen wir dann nichts hören. Sehr wohl aber, wie Asta hinterher aussieht: „Du wirkst wie jemand der grade gevögelt hat // ich treffe Hanibal als ich / auf dem Weg zu meinem Zimmer bin“.Die Einladung zur Gedenkfeier hebt all diese Erinnerung aus ihrer Vergangenheitsform heraus, lässt sie stets im Präsens laufen, in dem alles als konzentrierte Splitter auf uns einströmt, sich zu Fragmenten bündelt, die kaum je einmal mit erzählerischen Nebensätzen unterbaut sind. Die Gefahr dabei ist: zu schnell zu lesen, zu flüchtig hinzuschauen, Sätze, Abschnitte, Rhythmen nicht wirken zu lassen.Sind das First World Problems?Wenn wir dem Text behutsam folgen, erleben wir aber entlang der wenigen Sätze Aufwallungen, innere Dramen, Überraschungen. Dann drängen sich Eindrücke in den Blick: Wir folgen Telefon-Nachrichten, Szenen aus dem Alltag, Erschöpfung in der Sommerhitze, inneren Monologen. Høeg verdichtet die Welt zu einer konzisen Komposition, die formale Kriterien – Satzbau, Interpunktion – überspringt. Aber auch nicht lyrisch wird. Ihre Sprache bildet die Flüchtigkeiten unserer Gegenwart, all die zerrissene Gleichzeitigkeit zwischen hektischen Eindrücken, verpassten Nachrichten auf dem Telefon, Erinnerungen an Gespräche mit Augusts Mutter ab, kocht sie auf ihr Notwendigstes zusammen. Rastlosigkeit und Schweigen verschmelzen, Wollen und Nicht-Können, Feststellungen und widersprüchliches Verhalten. Die Abschnitte aus den Satzgräten vermitteln das Gefühl einer etwas orientierungslosen Icherzählerin, ihrer Einsamkeit, ihrem Hadern mit sich selbst. Sie machen einen Unterschied fühlbar, eine Distanz zu vielem drumherum, die auch die Distanz einer Autorin ist: immer beobachten, immer versuchen, Teil zu sein, nie ganz Teil sein können. Sich wieder zurückziehen zum Schreiben.Die Einladung zur Gedenkfeier trifft Asta in einem Moment, in dem die konzentrierte Arbeit am Manuskript zur Notwendigkeit geworden ist – gleichzeitig klärt die Erinnerung an die Zeit in der WG auch, wie artifiziell die Konstruktion um ihren Roman-Protagonisten geraten ist: Ihre Arbeit wird gleichsam umgeschmissen von der Gegenwart, der Erinnerung an August und ihre Jugend. Während wir also dem langsamen Zerfasern von Astas Roman-Idee beiwohnen, liegt darin auch die Geburt einer neuen Erzählung: Ihr zweiter Roman wird der, den wir schließlich als Tour de Chambre in den Händen halten.Die Erzählung stapelt also Zeitschichten übereinander, springt zwischen Erlebnissen in WG und Universitätszeit und der Gegenwart zehn Jahre später. Verliert aber nie den Faden: weil die Zufälligkeit all der Dinge, die Flüchtigkeit, mit der wir unser Leben bestreiten, gar keinen Faden bereithält. Diese Form der Subjektivität folgt der Kontingenz, mit der wir umgehen müssen, verlässt nie den Blick einer Frau in Skandinavien.Andere Autor*innen, kann man denken, wären der Gefahr, Tour de Chambre zur fortwährenden Selbstbespiegelung zu machen, auf den Leim gegangen. Das Set-up von Verlust, Erinnerung und Romanschreiben hält alle Möglichkeiten zur Oberfläche bereit, zur eitlen Auseinandersetzung mit First World Problems, die auf uns einströmen. Auch deshalb beeindruckt die Klarheit, mit der Høeg die Klippen von Pathos, Beliebigkeit und Banalität mit ihren zarten, biegsamen Sätzen umschifft. Und diese Sätze, ihr voranstolpernder Rhythmus, die Bereitschaft, alle Eindrücke, Gedanken und Regungen nebeneinanderzustellen, verfolgen einen noch, nachdem der Roman längst ausgelesen ist.Placeholder infobox-1
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