Nicht so skandalträchtig: Sanna Marins Dienstreisen
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Die finnische Ministerpräsidentin tanzt und eine Videoaufnahme davon wird zum Skandal hochgejazzt. Dabei spielen grundsätzliche Dinge eine Rolle: Politische Interessen, das sehnige, von Werbung und Achtsamkeitswirtschaft gründlich durchgenudelte Wort Authentizität. In jedem Fall aber, dass sie eine Frau ist. Vor allem: Wenn Sanna Marin ihre Tanzeinlagen womöglich das Amt kosten werden, dann sagt das mehr über uns aus als über die Politikerin.
Marin ist Finnlands Ministerpräsidentin und 36 Jahre alt. Das Land ist zu 77 Prozent von Wald bedeckt, im Mai schneit es gelegentlich noch. Über Finnland weiß man, dass es nicht Norwegen ist, hat Trevor Noah einmal die internationale Perspektive zusammengefasst. Im nächsten April sind Parlamentswah
lamentswahlen. Das ist in etwa die Ausgangssituation.Träger*innen höchster Staatsämter müssen eigentlich grundverschiedene Rollenbilder vereinen. Das Ganze ist nicht mehr so transzendental aufgeladen wie bei den beiden Körpern des Königs. Der Mediävist Ernst Kantorowicz unterschied bei diesen zwischen dem „body natural“ und dem „body politic“: Der erste ist allen menschlichen Schwächen unterworfen, die wir selbst zwischen Aufstehen und Zubettgehen und zunehmend noch danach bemerken. Der zweite beherbergt „das Amt, die Regierung und königliche Majestät“. Bei Kantorowicz ist dieser Körper mystisch und unsterblich, in ihm sind König und Untertanen „als Kopf und Gliedmaße vereinigt“.Body politic vs. body naturalHeute zeigt sich unser schizophrenes Verhältnis zu Regierenden: Sie dürfen nicht klüger sein als wir, Kompetenz und Weitsicht halten wir für zweitrangig. Sie sollen uns Politik erklären, wenn sie das dann tun, finden wir sie meistens arrogant. Eleganz ist verpönt. Wer uns an unsere Verantwortung erinnert oder aus politischen Überzeugungen handelt, begibt sich in Gefahr. Dann haben wir sofort den Begriff der Ideologie zur Hand und halten ihn wie einen Hammer.Unsere schlimmste Forderung an Politiker*innen ist, dass sie gut mit uns Bier trinken müssen. Von Tanzen ist nicht unbedingt die Rede, aber leutselig und sympathisch sollen sie sein. Aus ihrem Beruf heraustreten können. Also irgendwie authentisch sein, eine Qualität, die niemand genau bestimmen kann. Bloß nichts, was auf die Hierarchie von Kopf und Gliedern verweist. Eigentlich sollen Politiker*innen so kurzsichtig und sprunghaft sein wie wir. Vor allem bei Frauen schauen wir gern auf den body natural; inhaltliche Kritik an der Amtsführung von Sanna Marin gibt es eigentlich kaum.Ernst Kantorowicz hat ein Verhältnis der beiden Körper des Königs herausgearbeitet. Der weiträumigere „body politic“ säuberte die königlichen Handlungen von Problemen, die der natürliche Körper in sie hineinfehlerte. Dazu hat die säkulare Demokratie eine sehr andere Meinung: Hier säubert das Amt gar nichts, im Gegenteil: Je mehr wir die Amtswürde überhöhen, desto eher erscheint jede und jeder Inhaber*in wie eine Schwundstufe. Wenn Politiker*innen im Amt auch nur ein bisschen davon zeigen, was wir selbst so gerne tun, vielleicht nach Feierabend oder in den Ferien mal einen heben, statt über Maßnahmen nachzudenken, die uns vor allem Übel bewahren, ist aber richtig was los. Authentisch interessiert da null.Zur Demokratie gehört ein fortwährend persönlich geführter Wettstreit um Macht. Den auf moralischem Terrain zu halten ist eine Verabredung, von der nur noch sehr alte Menschen mit löchriger Erinnerung erzählen. Fehler sind ein willkommener Teil des Betriebes: Wo immer Gegner*innen Dreck an die Hacken geschmiert werden kann, wird das verlässlich getan. Jemanden moralisch diskreditieren zu können ist die beste Möglichkeit, lauten Applaus von uns zu bekommen. Die Vorsitzende der rechtspopulistischen Perussuomalaiset, aber auch ein Parlamentarier der Grünen hatten Sanna Marin sofort aufgefordert, sich auf Drogen testen zu lassen.Marin ist in der Sozialdemokratischen Partei groß geworden, sie ordnet sich eher links von deren Zentrum an. Und sie hat ein Instagram-Konto, auf dem sie neben offiziösen Bildern belanglose Selfies von sich im „Sommerwind“ oder nach freien Wochenenden präsentiert. Direkt neben Aufnahmen von ihr mit Mario Draghi zeigt sie ihren „body natural“. Vielleicht gehört das zum Selbstverständnis ihrer Generation, vielleicht ist es der Versuch, authentisch zu sein. Aber sie lädt damit ihre Gegner*innen ein, neben der Amtsführung über Posen und Privatleben zu urteilen.Die finnische Gesellschaft hat einen konservativen Kern, Pietismus unterströmt mindestens in der Boomer-Generation noch Teile der Sexualmoral. Das Ideal des bäurischen Ursprungs ist zwar in Städten deutlich blasser geworden, aber in der kollektiven Erinnerung verankert. Als die Ministerpräsidentin dem Magazin Trendi ein Interview über Erschöpfung und Druck im Amt gab, regten sich Leser*innen auf, dass sie unter dem schwarzen Sakko keinen BH trug. Die SDP sonnte sich in ihren Umfragewerten, jetzt aber wächst Unruhe, weil die Partei in Umfragen der konservativen Zentrumspartei hinterherläuft. Sanna Marin wäre ein guter Sündenbock.Und so werden die Diskussionen um sie von interessierten Kreisen am Leben gehalten: Der Halbskandal, dass sie gelegentlich selbst ihre Regierungsresidenz durchfeudelt, erreichte Deutschland nicht. Als sie vor ein paar Wochen in einer Lederjacke und Jeansshorts bildbewusst auf die Kamera zulief, wurde sie dafür vom Boulevard gefeiert. Nun kann sie sich davon überzeugen, dass der tanzende Frauenkörper etwa dasselbe Problem-Regalfach wie ein Ministerpräsident bewohnt, der zu Bunga-Bunga-Desserts mit Prostituierten lud. Oder einer, der sich die Tapeten der Dienstwohnung bezahlen ließ und während Covid-Lockdowns auf Feten im Amtssitz grüßte. Das weltweite Medienecho über Partys mit Influencern rückt ihre Umweltpolitik, ihre Unterstützung für die Ukraine oder Vorschläge, die Elternzeit auszuweiten, in einen Kernschatten.Man kann fragen, ob ihre Entscheidungen glücklich und durchkalkuliert waren: Muss eine Ministerpräsidentin ausgelassen herumhüpfen während all der übereinandergestapelten Krisen? Mehr noch, muss sie sich hinterher dafür entschuldigen, den Drogentest machen? Muss sie in der Entschuldigung erklären, dass ihr das Schicksal der Ukraine am Herzen liegt? Muss sie nicht. Aber das sind Petitessen.Die Debatte ist ein guter Gradmesser dafür, wie viel mehr eine Frau in einem politischen Amt Häme und Kritik ausgesetzt ist, die auf ihren Körper, ihre Kleidung, auf ihr Frausein zielt, wenn man ihr mit politischen Inhalten nicht beikommen kann. Selbst die sonst hüftsteif-seriöse Tageszeitung Helsingin Sanomat wollte mit heftig ins Boulevardeske lappenden Artikeln punkten. Amtswürde und so.In Finnland erzählen viele gerne von der Gleichberechtigung, vom geringeren Pay-gap. Bei der letzten Parlamentswahl errangen Frauen 47 Prozent der Sitze. Trotzdem prägen kräftige Männlichkeitsgesten die Kultur vor allem auf dem Land. Es geht oft um Stärke, Fleischessen, Motorsport. Vor vier Jahren regte sich der damalige Verteidigungsminister über die „ideologische Entscheidung“ auf, Soldat*innen an einem Tag vegetarisches Essen zu servieren. Keine Armee der Welt könne „mit der Kraft von Linsensuppe und Blumenkohl-Milkshakes“ kämpfen. Die wütende Männlichkeit ist zwar in der Selbstverständlichkeit ihrer Macht beschnitten, fort ist sie keineswegs.Die Lust am VorwurfMax Weber hat eine Weile vor der Erfindung von Instagram über Politik als Beruf nachgedacht. An einem kalten Münchner Januartag 1919 stellte er fest, dass Politiker einen ganz trivialen Feind haben: Eitelkeit. Das Bedürfnis, „selbst möglichst sichtbar in den Vordergrund zu treten“, ließe sie die zwei Todsünden gegen den Beruf der Politik zu begehen: Unsachlichkeit und Verantwortungslosigkeit. Beides werfen wir mit Lust jeder nur halbprivaten Aufnahme von Politiker*innen vor. Nur sehr wenige Menschen wählen aber schwärmerisch den sachlichen Politiker, seine verantwortungsbewusste Kollegin, obwohl sie die als Personen wumpe bis unsympathisch finden.Sanna Marin würde auch im nächsten Jahr gerne auf Festivals gehen. „Ich hoffe, dass wir Menschen sein können“, sagte sie. Das bleibt kompliziert, solange wir vor allem auf ihr Privatleben starren. Oder sie ist dann Ex-Ministerpräsidentin, weil ihr Tanzskandal wichtiger war als ihre Umweltpolitik.