Helsinki zum Jahreswechsel hat den ersten Schnee und alle Winterpracht wieder verloren. Es ist windig und die Stadt auf so viele Arten grau, dass man eine hohe Suizid-Rate sofort glauben möchte. Man habe so manches Problem, lächelt Timo Tanninen im Ministerium für Soziales und Gesundheit, meint aber nicht Stimmung und Wetter.
Der Ministerialrat für Finanzen steht der Steuerungsgruppe für einen Großversuch vor, mit dem die finnische Regierung der Langzeitarbeitslosigkeit begegnen will. Ab 1. Januar erhalten 2.000 zuvor ausgeloste Langzeitarbeitslose für zwei Jahre 560 Euro pro Monat und steuerfrei, dazu kommen Wohngeld, Leistungen wie Elterngeld und Zuschläge, die es auch sonst gäbe. Die 560 Euro, so Tanninen, orientierten sich am Satz der Grundsicherung in Finnland. Die gäbe es nun voraussetzungslos, woran sich nichts ändere, wenn die Betroffenen in diesen zwei Jahren einen Job bekämen, sich über befristete Arbeitsverhältnisse etwas dazu verdienten oder einfach nichts täten. „Es geht darum, das Sozialversicherungssystem einfacher zu machen.“
Tanninen wählt gewundene Sätze. „Die Regierung erhofft sich von diesem Experiment, Menschen aus einem überregulierten Arbeitsmarkt zu befreien und es ihnen leichter zu machen, kurzfristige Beschäftigungen anzunehmen.“ Wenn man stutzt und fragt, ob denn der Arbeitsmarkt so überreguliert sei, antwortet Tanninen auffallend schnell: „Nein. Er liegt in etwa in der Mitte dessen, was für Nordeuropa normal ist.“ Die Regierung hat ihr Projekt Basic Income Program genannt – und damit das Zauberwort vom Grundeinkommen bemüht. Das aber, so Tanninen, sei „ein wenig das Problem“.
Wer sich umschaut, wird erkennen, dass sich für irgendeine Form des Grundeinkommens in den vergangenen Jahren europaweit Politiker wie Unternehmer und Ökonomen ausgesprochen haben. Freilich ist damit selten ein- und dasselbe gemeint: Es gibt hohe Grundeinkommen, die auf Umverteilung zielen und Gesellschaftsutopien bemühen. Es gibt Ideen zu Grundeinkommen wie in Finnland, die sozialstaatliche Regelungen vereinfachen oder gleich ganz ersetzen wollen. Dieses Muster geht von einem eher niedrigen Satz aus und fußt auf dem Prinzip der negativen Einkommenssteuer von Milton Friedman.
Tanninen hat in das Besprechungszimmer mit dem fast fröhlich grünen Teppich ein paar Papiere mitgebracht, aus denen sich ersehen lässt, welche Erwartungen der Regierung diesen Test flankieren, bezogen auf mögliche Einkommenszuwächse etwa. Also Geld, das sich Arbeitslose dazuverdienen werden. Bei der Hälfte derer, die eine Grundsicherung erhalten, könnten das zwischen 10 und 500 Euro monatlich sein. Bei gut 42 Prozent der Betroffenen erwartet man „keine Veränderung“.
Man kann an Tanninens Aufstellung erkennen, dass Beschäftigungen, die das Experiment im Blick hat, ziemlich schlecht bezahlt und an Subventionen gebunden sind. Die Zahlen sagen zudem, dass es mit Perspektiven über diese temporären Jobs hinaus eher schlecht aussieht. Tanninen legt die Hände ineinander und schaut freundlich. Wenn man ein wenig tiefer bohrt, kippt es aus ihm heraus: „Das Ganze ist auch eine Werbung für die Regierung.“ Nach diesem Eingeständnis tritt man ein wenig desillusioniert auf die nasse Meritullinkatu hinaus.
Auf Eigenwerbung bedacht
Die Mitte-rechts-Koalition in Helsinki vertritt die These, dass der Arbeitsmarkt „überreguliert“ sei, und vertraut auf einen wachsenden Niedriglohnsektor, der Teil eines Wirtschaftsaufschwungs sein könne. Wenn Ökonomen oder Politikwissenschaftler einwenden, dass Finnland in den letzten beiden Dekaden eine Geschichte der Deregulierung aufweist, ohne dass damit einhergehende wirtschaftliche Versprechen eingelöst worden seien, ernten sie beharrliches Schweigen.
Die Werbung jedenfalls scheint zu klappen, Finnland ist im Gespräch. Der britische Independent schreibt statt von 560 von 800 Euro Zuwendungen. Der Guardian vermutet, dass ein Grundeinkommen „besser als Gedankenexperiment“ denn als „realistisches Sozialstaatssystem“ funktioniere. Andere zitieren den finnischen Wirtschaftsminister Olli Rehn mit Ideen zur „Wiederherstellung von Wettbewerbsfähigkeit“ und „Senkung der Lohnstückkosten“. Die meisten Medien blicken gebannt nach Norden. Übersehen wird: Das finnische Modell experimentiert im Vergleich etwa zur Schweizer Variante mit erheblich niedrigeren Sätzen, um den Lebensunterhalt der Betroffenen zu sichern. Handelt es sich um ein eher neoliberales Muster?
„Neoliberal? Das ist falsch“, so Ville-Veikko Pulkka von der Sozialkasse Kela. Pulkka sitzt in einem Alvar-Aalto-Gebäude in Töölö, außen grimmige Eleganz aus Backstein und grün angelaufene Kupferbeschläge, innen mit schwarz-weißen Marmorböden und erfrischend hellem Holz überraschend leicht und elegant. Gerade ist Pulkka von einer Konferenz zum Thema aus Dublin zurück. Er arbeitet als Sozialwissenschaftler an den Rechenmodellen des Experiments und will erst einmal festhalten, dass die 560 Euro exakt dem Satz der Arbeitslosenunterstützung entsprechen – also dem Basiswert, den Arbeitslose nach Bildungsabschlüssen oder dem Auslaufen einer Periode mit Arbeitslosengeld erhalten. „So gesehen, verteilt das Experiment diese Summe voraussetzungslos, mehr aber auch nicht.“
Man kann es bei Tanninen und Pulkka heraushören: Beide sind unzufrieden mit dem Modell der fixen Grundsicherung. Auch die Zahl der Teilnehmer sei zu niedrig angesetzt. Pulkka macht das deutlich, wenn er Alternativen aufzählt: „Wir hätten gern mehrere Gruppen mit unterschiedlichen Sätzen gehabt. So fragen wir nur die Bereitschaft ab, sich im low income sector zu betätigen.“ Eine zweite und dritte Gruppe hätten mit einem höheren Grundeinkommen andere Fragen aufwerfen können. Etwa, ob mehr Menschen ehrenamtlich aktiv werden, ob sie Unternehmen gründen, ob sie faul werden. Leider reduzierte die Regierung die Mittel. Überdies schien es rechtlich unsicher, ob unterschiedliche Sätze gerichtsfest seien.
Ville-Veikko Pulkka nennt einen Aspekt, der ihm wichtig erscheint. „Mich interessiert die psychologische Komponente bei diesem Experiment. Bin ich entspannter, wenn ich das Grundeinkommen jeden Monat bekomme, ohne Angst zu haben, wegen irgendwelcher Tätigkeiten reglementiert zu werden? Bin ich weniger gestresst, wenn ich nicht befürchten muss, Geld zu verlieren, wenn ich ein wenig arbeite?“ Er blickt durch den Raum mit seinen großen Fenstern und Alvar Aaltos schmalen Holzrahmen, als sei eine Chance vertan.
Natürlich gibt es grundsätzliche Fragen, die sich der Großversuch gefallen lassen muss. Da ist die zeitliche Beschränkung, die kaum einen Arbeitgeber dazu veranlassen wird, in Weiterbildung zu investieren. Auch erscheint es zweifelhaft, ob der Niedriglohnsektor auf Dauer zum Auffangbecken taugt. Viele Prozesse in der Dienstleistungsbranche dürften künftig noch stärker automatisiert sein.
Bis zu 60 Wochenstunden
„In Finnland haben wir starke Gewerkschaften“, sagt Osmo Soininvaara, Gründer der grünen Partei, früher selbst Sozialminister und stets ein Anwalt des Grundeinkommens auf der Basis der negativen Einkommenssteuer. Finnlands Industrie habe nach dem Niedergang von Nokia und durch die EU-Sanktionen gegen Russland erhebliche Einbrüche erlitten. Der Preis der Arbeit sei schlicht zu hoch. Zudem würden viele Regelungen aus den Zeiten der Industriegesellschaft heute nicht mehr funktionieren. Soininvaara nennt Beispiele: In Lappland seien Arbeitnehmer bereit, in der kurzen Spanne im Jahr, in der Touristen kämen, 60 Wochenstunden zu arbeiten. Die Gewerkschaften stimmten dagegen. Soininvaara berührt das deutsche Modell der Minijobs. Wenn man ihn fragt, ob das Grundeinkommen dadurch am Ende nicht gar dazu führt, dass nur Arbeitnehmerrechte unter den Tisch gekehrt werden, nickt er. Ja das sei schon ein Problem. „Es ist ja auch nicht unser Modell, wir sind in der Opposition.“
Selbst wenn der jetzige Test alle Erwartungen überträfe, könnte das gewählte Verfahren kaum flächendeckend eingeführt werden. Es wäre nicht kostenneutral und würde den Staat laut Schätzungen im Jahr gut elf Milliarden Euro kosten. Das liegt an der Steuergesetzgebung und einem nur geringen Einsparungspotenzial in einer sehr effizienten Verwaltung. So könnte diese Grundsicherung in Finnland zu einem Instrument werden, von dem Druck auf den Sozialetat ausgeht.
Man muss daher in diesen feuchtkalten Tagen in einem weiteren Büro vorsprechen, weil es einen Teil dieser Geschichte gibt, der wie eine Leerstelle oder offene Frage wirkt: Wie kommt die Regierung zu solchen Experimenten? Nach Antworten kann man in einem lang gestreckten Loft nahe beim Nationalmuseum suchen. Hier basteln schicke Menschen an einem Modell aus Pappe, haben ihre Schuhe am Eingang abgestreift und tragen dicke Socken – hier sitzt der Think-Tank Demos Helsinki. Roope Mokka, einer der beiden Gründer, lächelt: „Wir waren präsent zur rechten Zeit.“ Vor drei Jahren habe sich das Amt des Premierministers an sie gewandt, woraufhin ein Konzept zu evidence-based politics entstanden sei, das auf zwei Ideen fuße: der Vorstellung, Politik herzustellen und nicht einfach nur umzusetzen, und der Überzeugung, diesen Prozess so offen zu betreiben, dass sich andere beteiligen können. Mokka ist noch heute begeistert. Diese Herangehensweise verändere die Art, wie Politik entsteht. „Jetzt erleben wir, dass nicht verschiedene Instrumente diskutiert werden, sondern darüber beraten werden kann, wie wir die Ergebnisse verschiedener Experimente verstehen wollen, und dies in Gesetze einfließt.“ Man komme damit weg von Debatten zwischen politischen Lagern und hin zum Überprüfen von Hypothesen, die sich aus Experimenten wie diesem ergäben. „Dies bedeutet, dass wir nicht unbedingt das jetzt praktizierte Modell einer Grundsicherung haben wollen.“ Nach dem Abschied von Mokka kann man auf der Töölönkatu das erste Mal sehen, wie die Wolkendecke aufreißt. Um drei Uhr nachmittags geht die Sonne unter. Es wird kälter.
Info
Die Recherche für diesen Text wurde durch das Goethe-Institut in Helsinki und die Stiftung FUTURZWEI ermöglicht. Einen Zusatzartikel von Alessandro Gilioli finden Sie unter freitag.de/community im Blog von ed2murrow
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